Verzicht auf Strafverfolgung = Verfahrenseinstellung im Vorverfahren ≙ Absehen von Strafe im Hauptverfahren?

Stefan HeimgartnerTornike KeshelavaVerzicht auf Strafverfolgung = Verfahrenseinstellung im Vorverfahren = Absehen von Strafe im Hauptverfahren?LContraLegem20192130135

Verzicht auf Strafverfolgung = Verfahrenseinstellung im Vorverfahren ≙ Absehen von Strafe im Hauptverfahren?

Stefan Heimgartner & Tornike Keshelava

Anmerkungen zu Art. 8 StPO

Ingress

Christian Schwarzenegger hat seit jeher ein ausgeprägtes Interesse fürs Sanktionenrecht. Unter anderem hat er sich auch mit konzeptionellen Fragen der Strafzumessung auseinandergesetzt. Etwa hat er als einer der ersten schweizerischen Strafrechtslehrer die sog. Sperrwirkung der hypothetischen Kumulation bei der Asperation propagiert236 und (zu Recht) gegen die wenig praktikable sog. konkrete Methode gefochten.237 Letzteres leider ohne Erfolg.238 Seine Methodik zielt stets darauf ab, eine im Sinn und Geist des Gesetzgebers liegende praktikable Lösung zu präsentieren. Ebendieses Ziel verfolgt auch vorliegender Aufsatz in Bezug auf das Opportunitätsprinzip in der Strafverfolgung.

Das Opportunitätsprinzip ist in Art. 8 StPO mit der Marginalie «Verzicht auf Strafverfolgung» normiert. Abs. 1 dieser Bestimmung hält fest, dass Staatsanwaltschaft und Gerichte von der Strafverfolgung absehen, wenn das Bundesrecht es vorsieht, namentlich unter den Voraussetzungen der Artikel 52, 53 und 54 StGB. Art. 8 Abs. 4 StPO weist Staatsanwaltschaften und Gerichte («sie») an, in diesen Fällen zu verfügen, 131 dass kein Verfahren eröffnet oder das laufende Verfahren eingestellt wird.

Immer wieder stellen Strafgerichte Verfahren gestützt auf Art. 8 Abs. 1 und 4 StPO ein.239 Die höchstrichterliche Rechtsprechung limitiert indes die Anwendbarkeit dieser Regelung in Fortführung der altrechtlichen Praxis zu Art. 52 ff. StGB240 auf das Vorverfahren; nach Anklageerhebung sei hingegen beim Vorliegen der Voraussetzungen von Art. 52 ff. StGB das Verfahren nicht einzustellen, sondern der Täter zu verurteilen und von Strafe abzusehen.241 Haben wir es hier mit besonders ignoranten oder gar renitenten Richtern der unteren Instanzen zu tun? Oder gibt es Gründe, weshalb die bundesgerichtliche Praxis nicht auf Akzeptanz stösst?

Dazu ein illustratives Fallbeispiel:242 Ein US-amerikanisches Kreisgericht hatte in einem Vollstreckungsverfahren betreffend ein schweizerisches Scheidungsurteil zwischen dem in den USA wohnhaften B. und seiner in der Schweiz lebenden Ex-Ehefrau C. eine Ladung zur Stellungnahme erlassen. Darin hatte das Gericht C. aufgefordert, innert gesetzter Frist zum Vollstreckungsantrag von B. Stellung zu nehmen, ansonsten ein Säumnisurteil erfolgen würde. Darauf stellte A., Schweizer Anwalt von B., dem Schweizer Anwalt von C. die Verfügung des Kreisgerichts inklusive Vollstreckungsantrag auf postalischem Weg zu.243 Das Bundesstrafgericht stellte im (auf Anklage bzw. überwiesenem Strafbefehl der Bundesanwaltschaft durchgeführten) Hauptverfahren fest, dass das Zustellen (unter Umgehung des Rechtshilfewegs) einer ausländischen Gerichtsurkunde – deren Empfang Rechtswirkungen auslösen kann – an einen Adressaten in der Schweiz eine verbotene Handlung für einen fremden Staat gemäss Art. 271 Ziff. 1 Abs. 1 StGB darstelle.244 Indes qualifizierte das Gericht das Verschulden und die Tatfolgen als derart geringfügig, dass es im Sinne von Art. 8 Abs. 1 und 4 StPO i.V.m. Art. 52 StGB von einer Strafverfolgung absah und das Verfahren einstellte. Begründet wurde das fehlende Strafverfolgungsbedürfnis im Wesentlichen damit, dass das geschützte Rechtsgut (schweizerische Souveränität) in casu nur theoretisch tangiert worden sei (Adressat versierter Gegenanwalt, gegenständliches Exequaturverfahren im Hinblick auf Vollstreckung eines schweizerischen Scheidungsurteils).245 Das Bundesgericht kam mit Verweis auf die konstante Praxis (und dem Hinweis, dass kein Anlass bestünde, auf diese Rechtsprechung zurückzukommen) zum Schluss, dass Art. 8 Abs. 1 StPO keine Grundlage für die Einstellung des Verfahrens durch Gerichte nach Anklageerhebung in Fällen von Art. 52-54 StGB bilde.246 Es hiess die Beschwerde der Bundesanwaltschaft gut, hob die Einstellungsverfügung des Bundesstrafgerichts auf und wies die Sache zu neuer Entscheidung zurück. Im Rückweisungsverfahren sprach das Bundesstrafgericht A. wegen verbotener Handlungen für einen fremden Staat schuldig, sah indes gemäss Art. 52 StGB von einer Bestrafung ab. Neben den bereits im ersten Entscheid angeführten Gründen attestierte das Bundesstrafgericht dem Beschuldigten eine erhöhte Strafempfindlichkeit aufgrund allfälliger Konsequenzen hinsichtlich der Berufsausübung (als Folge einer Strafregistereintragung). Insgesamt erkannte das Gericht wiederum kein 132 Strafbedürfnis, verurteilte den Beschuldigten und sah von Strafe ab.247

Im Folgenden wird nach den Regeln der juristischen Methodik, mithin dem massgebenden Methodenpluralismus geprüft, ob die bundesgerichtliche Praxis dem Gesetz entspricht oder (unzulässiges) contra-legem-Judizieren darstellt.

Auslegung

Grammatikalische Auslegung

Wie das Bundesgericht in seiner konstanten Rechtsprechung immer wieder betont, ist der Ausgangspunkt der Auslegung stets der Gesetzeswortlaut. Ist der Text nicht vollkommen klar und sind verschiedene Auslegungen möglich, ist – unter Anwendung sämtlicher Auslegungsmethoden – nach der wahren Tragweite des Gesetzes zu suchen. Abzustellen ist insbesondere auf die Entstehungsgeschichte der Norm (historische Auslegung), ihren Zweck (teleologische Auslegung) sowie auf die Bedeutung, die der Norm im Kontext mit anderen Bestimmungen zukommt (systematische Auslegung). Das Bundesgericht lässt sich bei der Auslegung von Erlassen stets von einem Methodenpluralismus leiten und stellt nur dann einzig auf den Wortlaut ab, wenn sich daraus zweifelsfrei die sachlich richtige Lösung ergibt.248

Der Wortlaut von Art. 8 Abs. 4 StPO ist eindeutig und klar: «nicht zu eröffnen oder einzustellen ist». Auch hält Art. 8 Abs. 1 StPO fest, dass «Staatsanwaltschaft und Gerichte» in den vom StGB definierten Konstellationen von einer Strafverfolgung abzusehen haben. Als Strafverfolgung gilt zwar grundsätzlich der gesamte Prozess, der zu einer Einstellung, Verurteilung oder zu einem Freispruch führt. Der Gesetzgeber hat indes in Art. 52 ff. StGB differenziert zwischen Absehen von Strafverfolgung und Absehen von Bestrafung. Mithin meint der Begriff «Strafverfolgung» Prozesshandlungen, die auf eine Verurteilung – und eben nicht auf eine Bestrafung – abzielen.

Ausgehend von diesem Befund ist zu fragen, ob die übrigen Auslegungselemente Anlass zur Annahme bieten, dass der Wortlaut von Art. 8 Abs. 1 und 4 StPO nicht den wahren Sinn des Gesetzes wiedergibt.

Historische Auslegung

Aus der Entstehungsgeschichte der Norm ergeben sich keine Hinweise darauf, dass der Gesetzgeber den Anwendungsbereich von Art. 8 Abs. 1 und 4 StPO auf das Vorverfahren beschränken wollte. Im Gegenteil finden sich in den Gesetzesmaterialien Stellen, die sich explizit für die Anwendung des Opportunitätsprinzips (unter Einschluss der Möglichkeit der Verfahrenseinstellung) in jedem Verfahrensstadium aussprechen, so etwa im Bericht der Expertenkommission vom Dezember 1997 zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts «Aus 29 mach 1».249 Mit dem historischen Auslegungselement lässt sich die vom Gesetzeswortlaut abweichende Interpretation von Art. 8 Abs. 1 und 4 StPO somit nicht begründen.

Teleologische Auslegung

Die ratio legis des in Art. 8 StPO verankerten Opportunitätsprinzips liegt darin, beschuldigte Personen unter den Voraussetzungen von Art. 52 ff. StGB nicht zu verfolgen. Sie fusst – nebst prozessökonomischen Gesichtspunkten – auf der Erkenntnis, dass die Anwendung der Straftatbestände in bestimmten, gesetzlich definierten Fällen mit Blick auf den Beschuldigten unverhältnismässig sein kann.250 Dieser Zweck wird im Vorverfahren – soviel steht ausser Debatte – mit der Nichtanhandnahme bzw. Einstellung des Verfahrens verwirklicht, wie dies in Art. 8 Abs. 4 StPO ausdrücklich vorgesehen ist.

133 Die entscheidende Frage ist, ob im Hauptverfahren ein Schuldspruch mit Absehen von Strafe diesen Rechtsfolgen materiell gleichwertig ist. Und falls dem nicht so ist, ob es sachliche Gründe gibt, Täter für die gleiche Tat einmal zu verurteilen und einmal nicht. Die vom Bundesgericht «entwickelte» Differenzierung knüpft einzig und allein ans Verfahrensstadium an. Indes müsste das unterschiedliche Verschulden dafür massgebend sein, ob jemand als Straftäter verurteilt wird und bloss von Bestrafung abgesehen wird oder ob das Verfahren eingestellt wird. Geht doch die Verurteilung mit der Feststellung von Schuld und einer Stigmatisierung einher, während bei einer Einstellung der Beschuldigte nach der Unschuldsvermutung als unschuldig gilt. Mithin stellt sich die Frage, ob der fortschreitende Verfahrensstand einen Zusammenhang mit dem Verschulden hat. Die Antwort ist evident: Dem ist in aller Regel nicht so. Vielmehr hängt es von der Beurteilung der Verfahrensleitung – sprich im Vorverfahren vom fallführenden Staatsanwalt – ab, ob er gestützt auf Art. 52 ff. StGB das Verfahren einstellt oder nicht. Eine Differenzierung zu rechtfertigen vermöchte in Bezug auf Art. 53 StGB allenfalls der Umstand, dass ein Täter erst im Haupt- oder Berufungsverfahren eine Wiedergutmachung leistet, mithin die Verschuldensintensität marginal als höher zu betrachten ist als bei einer frühen Einsicht, Reue und Wiedergutmachung. Nachdem jedoch der Gesetzgeber mit Art. 8 Abs. 1 StPO die Fälle von Art. 52 ff. StGB einer einheitlichen Lösung zugeführt hat, bleibt für eine differenzierte Handhabung des Opportunitätsprinzips im Rahmen von Art. 53 StGB kein Raum.

In der Dogmatik wurde versucht, die zur Diskussion stehende Differenzierung einzuordnen, indem im Vorverfahren die einschlägigen Gründe als Opportunitätsregeln und im Hauptverfahren als Strafbefreiungsgründe charakterisiert wurden.251 Es bedarf keiner weitschweifigen Erläuterung, dass diese Einordnung gekünstelt ist, um eine scheinbare Logik für eine nicht zu rechtfertigende Differenzierung zu erlangen. Richtigerweise fehlt es bei Vorliegen der Voraussetzungen von Art. 52 ff. StGB a priori an einer hinreichenden Strafbegründung, mithin an einem Element für eine Bestrafung, d.h. einer Voraussetzung für eine Strafbarkeit als Basis für eine Verurteilung.

Nach dem Gesagten führt auch die teleologische Auslegung von Art. 8 Abs. 1 und 4 StPO nicht zu einem vom Wortsinn dieser Bestimmung abweichenden Ergebnis.

Systematische Auslegung

Das Bundesgericht begründet seine Auffassung von Art. 8 Abs. 1 und 4 StPO im Wesentlichen mit systematischer Auslegung. Nach dieser Methode ist im Zweifel so zu interpretieren, dass andere Normen nicht obsolet werden. Die wortgetreue Anwendung von Art. 8 Abs. 1 und 4 StPO würde Art. 52, 53 und 54 StGB teilweise obsolet machen, namentlich in Bezug auf die in diesen Bestimmungen vorgesehene Rechtsfolge des Absehens von einer Bestrafung.

Der angebliche Normwiderspruch lässt sich indes problemlos mittels systematischer Auslegung lösen. Da seit Inkrafttreten der StPO grundsätzlich diese für prozessuale Fragen massgebend ist, ist es fragwürdig, Rückgriff auf ein älteres Gesetz wie das StGB zu nehmen. Richtigerweise beansprucht dieses in Bezug auf prozessuale Fragen nur Geltung, wenn die StPO betreffende Fragen nicht regelt. Nach dem Grundsatz «lex posterior derogat legi priori» ist davon auszugehen, dass Art. 8 Abs. 1 und 4 StPO die Regelungen von Art. 52 ff. StGB hinsichtlich der Rechtsfolgen materiell derogiert haben.

Nicht zu überzeugen vermag sodann die in BGE 139 IV 220 E. 3.4.3 angeführte Erklärung, wonach – soweit in Art. 8 Abs. 1 StPO neben der Staatsanwaltschaft auch Gerichte genannt werden – nicht Gerichte gemeint seien, die im Hauptverfahren über die Anklage entscheiden, 134 sondern nur diejenigen Gerichte, welche über Beschwerden gegen Nichtanhandnahme- und Einstellungsverfügungen der Staatsanwaltschaft befinden. Das Bundesgericht stützt diese Interpretation auf Art. 351 Abs. 1 StPO, wonach das Gericht, wenn es materiell über die Anklage entscheiden kann, ein Urteil über die Schuld, die Sanktionen und die weiteren Folgen fällt. Daraus leitet es ab, dass nach Anklageerhebung ein Absehen von der Strafverfolgung nicht mehr möglich sei. Das Argument hinkt - es lässt ausser Acht, dass die Regelung von Art. 8 Abs. 1 und 4 StPO zwingender Natur ist: Sind die einschlägigen Voraussetzungen erfüllt, sind die in dieser Bestimmung genannten Behörden, namentlich auch Gerichte, verpflichtet, auf die Strafverfolgung zu verzichten. In diesen Fällen besteht für eine materielle Beurteilung der Anklage durch das Gericht gemäss Art. 351 Abs. 1 StPO gerade kein Raum. Im Übrigen spricht – nebst der klaren gesetzlichen Formulierung – auch folgender Gesichtspunkt dagegen, dass der Gesetzgeber mit «Gerichte» nur Beschwerdeinstanzen meinte. Bei der Beurteilung der Voraussetzungen von Art. 52 ff. StGB hat die Verfahrensleitung einen grossen Ermessensspielraum, in welchen die Beschwerdeinstanz generell nur mit Zurückhaltung eingreift. Dass sie gegen eine fehlende Verfahrenseinstellung durch die Staatsanwaltschaft selbst reformatorisch entscheidet und das Verfahren einstellt, ist in der Praxis kaum zu erwarten, zumal die Anklageerhebung ohnehin nicht anfechtbar ist.252 Die bundesgerichtliche Auslegung führt mithin dazu, dass die Regelung von Art. 8 Abs. 1 und 4 StPO – soweit sie sich auf Gerichte bezieht – praktisch zum toten Buchstaben wird. Ein solches Ergebnis steht gerade im Widerspruch zum Telos der systematischen Auslegung.

Grundrechtskonforme Auslegung

Obschon bei Anwendung der klassischen Auslegungsmethoden das Verdikt glasklar ist, wenden wir uns – last but not least – noch der grundrechtskonformen Auslegung zu:

Sind mehrere Interpretationen möglich, soll jene gewählt werden, welche die verfassungsrechtlichen Vorgaben am besten berücksichtigt.253 Der in Art. 8 BV verankerte Rechtsgleichheitsgrundsatz, der sich sowohl an rechtssetzende wie auch rechtsanwendende Behörden richtet, verlangt, dass Gleiches nach Massgabe seiner Gleichheit gleich und Ungleiches nach Massgabe seiner Ungleichheit ungleich zu behandeln ist. Die Rechtsgleichheit wird verletzt, wenn zwei Sachverhalte, die miteinander verglichen werden können, ohne sachlichen Grund unterschiedlich behandelt werden.254 Wie bereits aufgezeigt, gibt es grundsätzlich keine sachlichen Gründe für die thematisierte Differenzierung. Indes soll nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung das Verfahren gegen ein und denselben Täter für die identische Tat einmal eingestellt werden und einmal in einer Verurteilung (ohne Sanktionierung) münden. Dies unabhängig von den Gründen, sei es, dass die Verfahrensleitung im Vorverfahren das Vorliegen der Voraussetzungen von Art. 52 ff. StGB nicht erkannt hat oder dass sie den Fall der Einfachheit halber – etwa im Hinblick auf den Begründungaufwand und das Erledigungsrisiko bei einer Einstellung (eventuelle Genehmigungspflicht durch den leitenden Staatsanwalt, Beschwerdeverfahrensrisiko) – mit Strafbefehl oder Anklage erledigen wollte. Der Gesetzgeber wollte mit Art. 8 StPO dem Gleichbehandlungsgebot Nachachtung verschaffen, was das Bundesgericht als höchster Rechtsanwender indes mit seinem «Traditionsanschluss» bedauerlicherweise unterminiert hat.

Infolgedessen indiziert auch eine verfassungsmässige Anwendung von Art. 8 Abs. 1 und 4 StPO die Gleichbehandlung Beschuldigter bei gleicher Ausgangslage. Ansonsten würde es dem Ermessen des Staatsanwalts überlassen, ob er den Beschuldigten mit dem Unwerturteil eines Schuldspruchs stigmatisiert oder nicht. 135

Fazit

Wie das eingangs angeführte Fallbeispiel (I.) illustriert, liegt es nach bundesgerichtlicher Praxis in fine im Gutdünken der Staatsanwaltschaft, ob ein und derselbe Täter bei gleichem, nicht strafwürdigem Verhalten verurteilt wird oder nicht. Es dürfe schon schwierig zu begründen sein, weshalb nicht strafwürdiges Verhalten verurteilungswürdig ist. Quasi unmöglich zu begründen ist, weshalb ein und dieselbe nicht strafwürdige Tat bei gleichem Verschulden einmal verurteilungswürdig ist und einmal nicht. Mithin sollte bei Vorliegen von Strafbefreiungsgründen gemäss Art. 52-54 StGB auf eine Verurteilung verzichtet werden.255

Das in Art. 8 StPO verankerte Opportunitätsprinzip beansprucht in jedem Verfahrensstadium Geltung. Entgegen der bundesgerichtlichen Rechtsprechung ergeben sich aus dieser Bestimmung keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass es dem Sachgericht nach Anklageerhebung verwehrt sein soll, das Verfahren einzustellen. Da das Bundesgericht indes das contra-legem-Judizieren aufzuoktroyieren vermag, seien die Gerichte eindringlich davor gewarnt, im Sinne vorliegender Auffassung Ungehorsam zu leisten.

Um diesen Missstand zu beheben, wäre eine Praxisänderung oder eine noch klarere Regelung, etwa die Anpassung von Art. 52 ff. StGB an Art. 8 StPO,256 wünschenswert.

236

Vgl. Schwarzenegger/Hug/Jositsch, Strafrecht II, Strafen und Massnahmen, 8. Aufl., Zürich/Basel/Genf 2007, 86; Schwarzenegger, Die Sanktionsfolgenbestimmung und der Anwendungsbereich des Asperationsprinzips bei der Konkurrenz (Art. 49 Abs. 1 StGB), in: Heer/Heimgartner/Niggli/Thommen (Hrsg.), Festgabe für Hans Wiprächtiger, Basel 2011, 53; rezipiert vom BGer: BGE 143 IV 145 E. 8.2.3.

237

Schwarzenegger (Fn. 1), 45 ff.

238

Vgl. BGE 144 IV 217.

239

Vgl. aus der Rechtsprechung des Bundesstrafgerichts: BStGer vom 07.04.2017, SK.2016.46, kassiert durch BGer vom 20.03.2018, 6B_983/2017; BStGer vom 06.10.2017, SK.2017.16, kassiert durch BGer vom 28.05.2018, 6B_117/2018; BStGer vom 07.12.2017, SK.2017.27, kassiert durch BGer vom 05.03.2019, 6B_167/2018; BStGer vom 12.02.2018, SK.2017.66, auch diese Verfahrenseinstellung wurde vom BGer (BGer vom 19.07.2019, 6B_479/2018, E. 2.4.2 f.) als bundesrechtswidrig qualifiziert, der dagegen erhobenen Beschwerde der Bundesanwaltschaft war indes aus einem anderen Grund kein Erfolg beschieden.

240

BGE 135 IV 27 E. 2.

241

BGE 139 IV 220 E. 3.4.

242

An den diesen Fall betreffenden bundesstrafgerichtlichen Entscheiden wirkten die Autoren des vorliegenden Beitrags mit.

243

BGer vom 28.05.2018, 6B_117/2018, Sachverhalt: A.

244

TPF 2018 16, E. 4.34.6 und E. 4.8.

245

BStGer vom 06.10.2017, SK.2017.16, E. 5.2 (nicht in TPF 2018 16 publ.).

247

BStGer vom 18.12.2018, SK.2018.28, E. 5.3 f.

248

Statt vieler BGE 139 IV 282 E. 2.4.

250

Fiolka/Riedo, in: Niggli/Heer/Wiprächtiger (Hrsg.), Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2. Aufl., Basel 2014, Art. 8 StPO N 2.

251

Riklin, in: Niggli/Wiprächtiger (Hrsg.), Basler Kommentar, Strafrecht I, 4. Aufl., Basel 2019, Vor Art. 52-55 StGB N 10.

252

Art. 324 Abs. 2 StPO.

253

BGE 137 II 164 E. 4.1.

254

Statt vieler BGE 123 II 9 E. 3a.

255

Jositsch/Ege/Schwarzenegger, Strafrecht II, 9. Aufl., Zürich u.a. 2018, 77.

256

Vgl. zu einem anderen Ansatz, der auf das gleiche Ergebnis hinzielt: Melunovic/Kuhn, Vorschläge für Art. 8 StPO, plädoyer 2019, 58.

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