Einschränkung des Briefverkehrs in der Untersuchungshaft

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Einschränkung des Briefverkehrs in der Unter­suchungs­haft

Duri Bonin/Diego R. Gfeller/Adrian Bigler

Der Blick ins Gesetz

66 Ein Blick ins Gesetz zeigt: «Die inhaftierte Person darf in ihrer persönlichen Freiheit nicht stärker eingeschränkt werden, als es der Haftzweck sowie die Ordnung und Sicherheit in der Haftanstalt erfordern» (Art. 235 Abs. 1 StPO). Abgesehen vom Entzug der Freiheit sind demnach alle weitergehenden Einschränkungen rechtfertigungsbedürftig, wobei dasselbe Ziel nicht mittels milderer Mittel erreichbar sein darf und alles zu vermeiden ist, was sich als vorgezogene Bestrafung auswirken könnte.

Einschränkung des Korrespondenzrechts

Was ist vor diesem Hintergrund von einer vom 28. März 2018 datierenden Verfügung zu halten, die Haftkorrespondenz eines Beschuldigten werde auf einen Brief zu höchsten 3 A4-Seiten pro Woche beschränkt, was mit dem Administrativaufwand, der mit der Briefzensur verbunden ist, begründet wurde? Nach Ansicht der Autoren handelt es sich um ein unzulässiges staatsanwaltschaftliches Ansinnen.

Gegen die Verfügung wurde denn auch fristgerecht Beschwerde erhoben. Das Zürcher Obergericht (UH180136 vom 29. Mai 2018) kam zum gleichen Ergebnis:

«(...) Eine Einschränkung des Korrespondenzrechts als Grundrechtseingriff hat stets verhältnismässig zu sein. Insbesondere muss die Massnahme im Hinblick auf den angestrebten Zweck erforderlich sein, d. h. sie hat zu unterbleiben, wenn eine gleich geeignete, aber mildere Massnahme für den angestrebten Erfolg ausreichend wäre. Daraus folgt, dass nicht in jedem Fall, in welchem die Gefahr besteht, das Korrespondenzrecht könnte missbraucht werden, eine zahlen- und/oder umfangmässige Beschränkung des Briefverkehrs gerechtfertigt und verhältnismässig ist. Um einer allfälligen Kollusionsgefahr und der damit selbstredend einhergehenden Missbrauchsgefahr des Korrespondenzrechts hinreichend zu begegnen, reicht es aus, wenn – wie die Verteidigung zutreffend vorbrachte – jeweils im konkreten Fall, d. h. wenn bei einer Briefkontrolle ein den Haftzweck oder die Ordnung und Sicherheit in der Haftanstalt gefährdender Inhalt festgestellt wird, der fragliche Brief nicht weitergeleitet wird (BGE 100 Ia 454 Erw. III.b.). (...) In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass allein der Umstand, dass ein Brief ein laufendes Verfahren zum Gegenstand hat, nicht zwangsläufig bedeutet, dass damit der Untersuchungszweck oder die Wahrheitsfindung im Strafverfahren gefährdet wäre. Nur wenn Letzteres zutrifft, darf die Verfahrensleitung die Weiterleitung ablehnen. (…) Im Übrigen ist anzumerken, dass sich auch mit der von der Staatsanwaltschaft verfügten Einschränkung des Korrespondenzrechts Vorfälle wie jener, bei welchem der Beschwerdeführer einen Mitinsassen vor dessen Entlassung aus der Haft beauftragte, einen Brief hinauszuschmuggeln, nicht verhindern liessen.»

67 So weit so richtig und dem Rechtsstaat genüge getan? Leider nur partiell. Denn für zwei Monate wurde empfindlich in die Grundrechte des Inhaftierten eingegriffen: So lange dauerte es nämlich, bis das Obergericht obige Erwägungen zu Papier brachte und den Parteien zustellte.

Den Antrag auf aufschiebende Wirkung der Beschwerde lehnte die Beschwerdeinstanz mit dem Hinweis ab,

«dass es nicht angeht, der vorliegenden Beschwerde mittels Anordnung der aufschiebenden Wirkung und Aufhebung der Einschränkung des Briefverkehrs schon mit einer superprovisorischen Verfügung praktisch zum Durchbruch zu verhelfen».

Als ob der die aufschiebende Wirkung verweigernde Entscheid nicht genau das auch tut. Einfach mit den umgekehrten Vorzeichen: Der unzulässigen Verfügung für die Dauer des Beschwerdeverfahrens «praktisch zum Durchbruch zu verhelfen».

Allenfalls wäre der Blick über den Tellerrand der strafprozessrechtlichen Literatur hinein ins Zivilprozessrecht nicht verkehrt: Dort ist das Konzept der Hauptsachen- und Nachteilsprognose längst etabliert. Dies auf den vorliegenden Fall angewandt hätte wohl zu den Schlüssen geführt, dass sowohl Hauptsachen- wie Nachteilsprognose (die Frage danach, welche Partei welche Nachteile zu gewärtigen hätte) zu Gunsten des Beschwerdeführers ausfallen: Während die Staatsanwaltschaft ja vorwiegend administrativen Aufwand reklamierte, wurde durch die Verfügung der Staatsanwaltschaft massiv in die Grundrechte des Beschwerdeführers eingegriffen und zwar in einer Art und Weise, die nicht wieder gut gemacht werden konnte, zumal bei Durchführung eines doppelten Schriftenwechsels mit jeweils zehntägigen Fristen zur Stellungnahme. Mit anderen Worten: Mit der heutigen Praxis ist der Rechtsschutz des Inhaftierten ungenügend gewährleistet, nützt es dem Gefangenen doch reichlich wenig, wenn er nach zwei Monaten erfährt, dass die Voraussetzungen der Beschränkung des Briefverkehrs nicht gegeben gewesen wären. Der Nachgeschmack ist um so schaler, als der Verdacht sich aufdrängt, dass die Einschränkung des Korrespondenzrechts als Disziplinierungsmassnahme missbraucht worden sein könnte.

Das Haftregime in den Zürcher Untersuchungsgefängnissen

Ist der geschilderte Fall tatsächlich ein Grund für Aufregung? Wir meinen ja: Das Haftregime in den Untersuchungsgefängnissen ist bereits grundsätzlich dergestalt, dass das Ausleben menschlicher Kommunikationsbedürfnisse starken Einschränkungen unterliegt: Inhaftierte können zumindest im Kanton Zürich pro Woche einen Besuch mit einer maximalen Dauer von einer Stunde empfangen, wobei mitunter selbst der Besuch des Anwaltes an dieses Besuchskontingent angerechnet wird. Auch der Zugang zu Telefon oder Internet ist losgelöst vom Haftgrund pauschal untersagt, was sich namentlich bei blosser Fluchtgefahr nur schwer begründen lässt. Weiter gibt es in den Untersuchungsgefängnissen viel zu wenig Arbeits- oder andere Beschäftigungsmöglichkeiten. In der Mehrzahl der Fälle sind die Inhaftierten deshalb zur Untätigkeit verdammt. Und dies regelmässig in Einzelhaft während 23 Stunden am Tag.

Vor dem Hintergrund des restriktiven «Grundsystems» wird erst verständlich, wie empfindlich eine Einschränkung des Briefverkehrs die Insassen trifft.

Vor dem Hintergrund des restriktiven «Grundsystems» wird erst verständlich, wie empfindlich eine Einschränkung des Briefverkehrs die Insassen trifft. Auch kann es niemanden ernsthaft erstaunen, dass die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter sowie das Schweizerische Kompetenzzentrum für Menschenrechte scharfe Kritik gerade am Zürcher Haftregime äussern und sich beschämenderweise ernsthaft die Frage stellt, ob der hiesige Vollzug von Untersuchungshaft den Mindeststandards von Art. 3 EMRK genügt. Das obige Beispiel mit dem alleinigen Haftgrund der Fluchtgefahr wieder aufnehmend, ist exemplarisch festzuhalten, dass die heutige Praxis mit 68 der Unmöglichkeit des direkten Kontakts mit Familienangehörigen (durch das absolute Telefonverbot verbunden mit einem rigiden Besuchsregime) den menschenrechtlichen Minimalvorgaben nicht genügt. Kollege Thomas Heeb hat richtigerweise darauf hingewiesen, dass «ein gesichertes Hotelzimmer und eine gut ausgebaute Telefonzentrale» i. d. R. genügen würden, um die mit der Untersuchungshaft verfolgten Zwecke zu erfüllen. Alles was darüber hinaus geht, ist von Art. 235 StPO nicht gedeckt und stellt damit faktisch eine gesetzlich nicht vorgesehene Bestrafung einer bloss verdächtigen – also von Gesetzes wegen unschuldigen – Person dar. Es erscheint denn nur als logisch, dass bei der derzeitigen Ausgestaltung der Haft das persönliche Beziehungsnetz und die Persönlichkeit der Inhaftierten ernstlichen Schaden zu nehmen drohen, was letztlich die «Resozialisierung» eines allenfalls Unschuldigen beschlägt. Selbst das Bundesgericht spricht sich denn auch für eine Lockerung der Haftbedingungen mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft aus.

Aufgrund der nicht enden wollenden Kritik an der Vollzugspraxis hat die Zürcher Justizdirektorin Jacqueline Fehr im Jahr 2015 versprochen, «jeden Stein umzudrehen». Konkret hat sie hierfür eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe eingesetzt, welche Vorschläge zur Verbesserung der sozialen Kontakte für Untersuchungshäftlinge ausarbeiten soll. Zu den Vorschlägen gehört zum Beispiel die Einführung eines sogenannten 2-Phasen-Modells: In einer ersten Phase sollen die Haftbedingungen weiterhin strikt «gehalten sein», in einer zweiten Phase werden sie gelockert – namentlich für Verdächtige, bei denen keine Kollusionsgefahr besteht. In dieser zweiten Phase wären beispielsweise Besucher ohne Trennscheibe und telefonischer Kontakt zur Aussenwelt möglich. Auch könnte ein Gruppenvollzug eingeführt werden, was bedeutet, dass die Zelltüren tagsüber offenstehen und die Häftlinge sich gegenseitig besuchen dürfen.

Kurzum: Die Kritik ist einhellig und der Reformbedarf unbestritten. Geplant war denn auch ein Pilotversuch mit rund 70 Plätzen für die zweite Haftphase im Gefängnis Limmattal, der im Sommer 2018 hätte starten sollen. Mittlerweile ist zu vernehmen, dass der Zeitpunkt für den Pilotversuch nach hinten verschoben und die Anzahl der davon profitierenden Untersuchungsgefangenen auf 35 halbiert werden soll. Die Verbesserung für die Untersuchungsgefangenen besteht bis dato darin, dass sie nunmehr unter der Woche täglich duschen dürfen, statt wie bisher nur zweimal: Verdankenswerterweise hat das entwürdigende Stinken anlässlich der Vorführungen bei Polizei, Staatsanwaltschaft und Gerichten ein Ende. Diese «Lockerung» ist mithin gleichermassen erfreulich wie im Kern erschütternd. Die zögerlichen Schritte sind unverständlich, zumal in anderen Kantonen ein menschenwürdigerer Umgang mit den Untersuchungsgefangenen längst Praxis ist.

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