Semantik von Gesetzen

Nemo NoctuaSemantik von GesetzenMContraLegem201912223


Semantik von Gesetzen

Nemo Noctua

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«As nightfall does not come at once, neither does oppression. In both instances, there is a twilight when everything remains seemingly unchanged. And it is in such twilight that we all must be most aware of change in the air – however slight – lest we become unwitting victims of the darkness.»

William O. Douglas, 1898–1980

Am 25. November 2018 stimmte das Schweizer Stimmvolk über das Sozialdetektive-Gesetz (Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts [ATSG], gesetzliche Grundlage für die Überwachung von Versicherten) ab. Zusammengefasst, da sind sich Kritiker und Befürworter einig, erhalten nun Sozialversicherungen weitgehende Eingriffsrechte, die Versicherten durch Privatdetektive zu observieren, um allfällige Missbräuche zu bekämpfen. Streitpunkt im Vorfeld der Abstimmung war allerdings, ob dieses Gesetz notwendig sei und ob diese Eingriffsrechte mit rechtstaatlichen Prinzipien in Einklang zu bringen seien. Befürworter weisen auf die Notwendigkeit privater Kontrollmechanismen hin, Gegner hingegen auf die nichtstaatlichen Eingriffe in die Privatsphäre.

Der Autor dieser Zeilen hat weder praktische Erfahrung mit allfälligen Missbräuchen von Sozialversicherungsleistungen, noch ist er naiv genug zu glauben, dass solche Missbräuche nicht vorkämen. Und obwohl er als freiheitsliebender Mensch grundsätzlich Kontrolle jeglicher Art ablehnt, insbesondere nicht-staatliche, gebietet ein gepflegter Umgang in der Demokratie alle Argumente anzuhören.

In diesem Zusammenhang erschien in der NZZ am 8. November 2018 ein Interview mit dem Rechtsanwalt Philip Stolkin, der gegen dieses Gesetz kämpft und mit Andreas Dummermuth, dem Geschäftsleiter der IV-Stelle des Kantons Schwyz, der das Gesetz befürwortet. Im als Streitgespräch gestalteten Interview hatten beide Kontrahenten die Gelegenheit, ihre Argumente zu präsentieren. Philip Stolkin wies dabei überspitzt darauf hin, dass das Sozialdetektive-Gesetz die Überwachung von Schlafzimmern per Drohne erlaube, weil das Gesetz zu schwammig formuliert sei und der Wortlaut des Gesetzestextes das eben nicht verbiete. Die beiden Journalisten nahmen diese Aussage auf und fragten:

«Herr Dummermuth, wo steht im Gesetz, dass Versicherungen nicht mit Drohnen in Schlafzimmer hineinfilmen dürfen?»

Die Antwort folgte prompt:

«Das hat der Bundesrat so gesagt, es entspricht der Rechtsprechung des Bundesgerichts, und es kam im Parlament zum Ausdruck.»

Philip Stolkin bekräftigte sein Argument, indem er erneut darauf hinwies, dass der Gesetzeswortlaut keine Einschränkung kenne. An dieser Stelle hätte Andreas Dummermuth darauf hinweisen können, dass auch in einem Civil Law Staat, wie es die Schweiz ist, der gesetzgeberische Wille auch durch Gerichte zum Ausdruck kommt, dass die Rechtsprechung zur Fortentwicklung des Rechts beitragen darf, dass die Grenzen zwischen de lege lata und de lege ferenda vage sein können, 23 dass eine ständige Rechtsprechung Gesetze nicht nur ergänzen, sondern auch contra verba legis auslegen darf. Andreas Dummermuth entschied sich aber für ein anderes Argument:

«Es geht hier nicht um Semantik, sondern um eine Gesetzesvorlage, die nicht nur ich, sondern der Bundesrat und das Parlament für zielführend und präzise erachten.»

Man muss diese Aussage mehrmals lesen, um ihre Tragweite zu verstehen. Sie ist, das lässt sich nicht anders beschreiben, gefährlich.

Ohne Wittgenstein gelesen zu haben, sollte man wissen, dass Semantik und Recht eng und untrennbar mit einander verwoben sind. Ein Blick in die Gesetzesbücher zeigt, dass dort Wörter, Sätze und Texte geschrieben sind. Vom wenigen Ausnahme mal abgesehen besteht Recht aus Sprache. Und die Ambivalenz der Sprache macht Recht und seine Auslegung so kompliziert, aber eben diese Sprache gibt dem Recht auch seine Grenzen und unterbindet damit allzu grosse Willkür. Recht ist Sprache möchte man Andrea Dummermuth hinterherrufen, doch offenbar hat er ein anderes Verständnis von Recht. Recht ist für ihn ein Verhaltenskodex, welcher seine Geltung über die Bestätigungen durch Autoritäten erhält (Bundesrat, Parlament). Er argumentiert, dass das Gesetz richtig sei, weil es der Bundesrat und das Parlament für zielführend hielten. Er versteckt seine Sympathien für dieses Gesetz hinter den Autoritäten der Institutionen und argumentiert mit deren Legitimität statt mit dem Gesetz selber. Ein solches Vorgehen ist, ich wiederhole mich gerne, gefährlich. Wenn Gesetze und Recht nicht mehr primär aus sich selber heraus erklärt werden sollen, sondern im Lichte dessen, was Institutionen davon halten, dann sind wir nicht mehr sehr fern vom «Führers Wille». Indem Andreas Dummermuth meint, dass es «nicht um Semantik gehe», meint er nicht die Semantik als solche, denn eine solche ist (Gesetzes-)Texten schlicht nicht abzusprechen, sondern die Semantik der Nicht-Autorität. Nicht der Wortlaut als solche ist ein Problem für ihn, sondern die Auslegung des Wortlautes durch juristisch-semantische Methoden (und durch jedermann). Jegliches Mass sprengt Andreas Dummermuth mit seiner Aussage, dass die Semantik irrelevant sei, weil die angerufenen Autoritäten das Gesetz für präzise hielten: Präzision (also Rechtssicherheit) nicht aus dem Wortlaut des Gesetzes heraus, sondern durch die Auslegung von Institutionen. Propagiert wird damit von Andreas Dummermuth eine Rechtsordnung, welche nicht auf demokratischen Grundsätzen fusst und rechtsstaatliche Grenzen kennt, sie sich im Wortlaut eines Gesetzes widerspiegeln, sondern von oben herab diktiert wird. Sein Argument einige Zeilen früher, dass die Überwachung von Schlafzimmern durch Drohnen nicht erlaubt sei, weil «der Bundesrat das so gesagt hat» kann unkommentiert bleiben, es spricht für sich und ist Ausdruck eines, ich wiederhole mich, gefährlichen Rechtsverständnisses.

Ein solches Rechtsverständnis ist ein stiller Bruch mit der Vorstellung, dass Gesetze primär durch ihren Wortlaut heraus zu verstehen sind, und dass eben dieser Wortlaut auch die Grenzen ihrer Auslegung bestimmt. Es ist ein stiller Bruch, weil dieser Vorstellung demokratisch legitimierte «Über-Interpretatoren» (Bundesrat, Parlament) entgegengestellt werden, aber es ist ein Bruch. In anderen Rechtsgebieten ist man mit dem Bruch schon weiter: Textinterpretation weicht scheinbaren Idealen, wie der Sicherheit, der Ordnung, undefinierter Menschenrechte, dem Schutz des Schweizer Finanzmarktes, das öffentliche Interesse an einer funktionierenden Strafjustiz, etc. Und jeder Bruch, noch so klein, führt irgendwann zur Erosion. In der Dämmerung, wie William O. Douglas treffend festhält, wo diese Brüche stattfinden, heisst es, wachsam zu sein.

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