Trouvaillen aus Asylentscheiden

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Trouvaillen aus Asylentscheiden

Robert Fees

48 Bei der Durchsicht von asylrechtlichen Entscheiden entdeckt man bisweilen kuriose Ansichten der zuständigen Behörden. Nachfolgend eine kleine Auswahl:

Im Sommer 2018 sorgte ein Entscheid des Bundesamtes für Fremdenrecht und Asyl in Österreich zur Homosexualität eines Asylsuchenden für Empörung. Der verantwortliche Beamte befand die geltend gemachte Homosexualität als nicht glaubhaft und führte zur Begründung diverse Klischees auf, welche der Asylsuchende angeblich nicht erfüllte. Weder dessen Gang, Gehabe oder Bekleidung hätten auch nur annähernd darauf hingedeutet, dass er homosexuell sein könnte. Zudem habe er in der Asylunterkunft mit anderen Männern Streit gehabt. Es sei bei ihm ein Aggressionspotenzial vorhanden, welches bei einem Homosexuellen nicht zu erwarten wäre. Der junge Mann sei ausserdem nicht gesellig und ein Einzelgänger, was auf Homosexuelle eher weniger zutreffe (Wiener Zeitung, «Sie sind nicht homosexuell», 15.08.2018).

Doch auch bei uns bekunden die zuständigen Beamten Probleme bei der Prüfung der Glaubhaftigkeit von Aussagen:

Für die Prüfung, ob eine Aussage glaubhaft ist oder nicht, kann das Staatssekretariat für Migration (SEM) meist einzig auf die Ausführungen der Gesuchsteller selbst abstellen, da oft keine objektiven Beweismittel zur Stützung ihrer Darlegungen vorhanden sind oder aber nicht beschafft werden können. Für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit von Aussagen werden – wie im Strafrecht auch – aus der Aussagepsychologie gewonnene Erkenntnisse herangezogen. Das SEM prüft, ob Realkennzeichen oder Lügensignale den Aussagen zu entnehmen sind und wägt sie gegeneinander ab. Vielfach weicht es jedoch von dieser Methode ab und argumentiert mit Plausibilität (spricht in diesem Zusammenhang jedoch oft fälschlicherweise von Logik) und allgemeiner Lebenserfahrung.

Aus einem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts geht hervor, dass es das SEM als der «allgemeinen Logik» widersprechend erachtet hat, dass der Beschwerdeführer, ein Afghane, von den Taliban mit dem Tod bedroht worden sei, da er durch die Drohung vorgewarnt worden sei (Urteil des BVGer E-5906/2017 vom 1. Dezember 2017 E. 5.1). Dem SEM scheint das Konzept der Drohung nicht ganz geläufig zu sein.

Auch für die Liebe hat das SEM wenig Verständnis. So führte es als Argument für die fehlende Glaubhaftigkeit der Asylvorbringen eines afghanischen Ehepaars unter anderem an, es erscheine «fiktiv», dass der Mann nach einem ersten erfolglosen Heiratsantrag sich vom Misserfolg und von den ethnischen Unterschieden nicht abschrecken liess und ein zweites Mal um die Hand der Frau, die er liebte, anhielt (Urteil des BVGer E-4587/2018 vom 19. Dezember 2018 E. 5.1 und E. 6.1).

Wenn wir von allgemeiner Lebenserfahrung – von der unser Verständnis von Plausibilität 49 geprägt ist – sprechen, bewegen wir uns definitionsgemäss in einem Referenzrahmen, der nicht nur auf der Makroebene von unserer Kultur, sondern auch auf der Mikroebene von persönlichen Erlebnissen definiert wird. Entsprechend wird die «allgemeine Lebenserfahrung» einer in der Schweiz sozialisierten Person, die nie einen grösseren Konflikt (als höchstes der Gefühle müssten wohl der Konflikt um den Berner Jura oder die Abspaltung der BDP von der SVP genannt werden) in ihrem Land geschweige denn einen Krieg erlebt hat, kaum die gleiche sein, wie diejenige eines Bewohners von Kabul, der das Regime der Taliban und mehrere Kriege erleben muss(te) und für den Anschläge, Tod und Verlust nichts Aussergewöhnliches darstellen. Selbst wenn wir in unserem sogenannten «Kulturkreis» (was auch immer das genau sein mag) bleiben, sehen wir, dass die allgemeine Lebenserfahrung und das Verständnis von Plausibilität unterschiedlich ausfallen müssen: ein Deutscher, der in der DDR aufgewachsen ist und dem die Todesschüsse an der innerdeutschen Grenze noch präsent sind, oder ein Neapolitaner, der mit den Praktiken der Camorra konfrontiert ist, beurteilen aufgrund ihrer Erfahrung gewisse Ereignisse als plausibel, die ein Appenzeller oder ein Zürcher als fiktiv und abwegig erachten würden. Wie hätte das SEM wohl die Plausibilität beurteilt, wenn ihm eine Gesuchstellerin erzählt hätte, ihr zukünftiger Ehemann sei beim Besuch eines Konsulats in der Türkei getötet und in Einzelteile zerlegt in Koffern rausgetragen worden?

Vom Bundesverwaltungsgericht wird das SEM zu Recht regelmässig für sein Abstützen auf das Kriterium der Plausibilität zur Beurteilung der Glaubhaftigkeit kritisiert (vgl. bspw. Urteile des BVGer D-2124/2014 und D-4194/2015 vom 15. Januar 2016 E. 7.3 m.w.H.; D-7912/2016 vom 12. Februar 2018 E. 5.1). Allerdings verfällt das Gericht diesem Vorgehen leider allzu oft selbst (vgl. bspw. Urteile des BVGer D-3513/2016 vom 11. April 2017 E. 6.1 und D-5785/2018 vom 8. November 2018 E. 6.2, wo es explizit festhält, Vorbringen seien dann glaubhaft, wenn sie plausibel seien; sie dürften nicht der inneren Logik entbehren und nicht der allgemeinen Erfahrung widersprechen).

Offenbar wird zuweilen vergessen (oder aus politischen Gründen verdrängt), dass im Asylrecht über menschliche Schicksale entschieden wird.

Aber auch wenn es nicht um die Prüfung der Glaubhaftigkeit einer Aussage geht, erstaunen die Begründungen der Asylbehörden bisweilen:

So befand es das SEM in einem Entscheid für zumutbar, einen unbegleiteten minderjährigen Asylbewerber in seinen Heimat- bzw. Herkunftsort zurückzuschicken. Der Vollzug der Wegweisung sei unter anderem deshalb zumutbar, weil der Gesuchsteller bereits über mehrere Monate Arbeitserfahrung in verschiedenen Berufszweigen verfüge. Dass diese Arbeitserfahrung zufolge Kinderarbeit zustande kam, berücksichtigte das SEM nicht weiter und es setzte sich auch nicht konkret mit dem Kindeswohl gemäss dem Übereinkommen über die Rechte des Kindes vom 20. November 1989 (KRK; SR 0.107) auseinander (Urteil des BVGer D-568/2017 vom 8. Februar 2017). In einem ähnlichen Fall konnte der minderjährige eritreische Gesuchsteller ab der sechsten Klasse nicht mehr jeden Tag zur Schule gehen, da er seine Familie mit einer Arbeitstätigkeit unterstützen musste. Auch diese Kinderarbeit stellte für das SEM Arbeitserfahrung dar, auf die es sich bei der Begründung der Zumutbarkeit des Wegweisungsvollzugs stützte (Urteil des BVGer D-1372/2017 vom 31. März 2017).

In beiden Entscheiden wies das Bundesverwaltungsgericht das SEM ausdrücklich darauf hin, dass Kinderarbeit nicht als berufliche Erfahrung gewertet werden darf.

In einem anderen Fall reiste ein sri-lankischer Staatsangehöriger von Colombo via Singapur nach Zürich und ersuchte in der Schweiz um Asyl. Das SEM trat auf das Asylgesuch mit einer abenteuerlichen Argumentation nicht ein: Es stellte sich auf den Standpunkt, der Gesuchsteller könne ein solches in Indonesien stellen. Sri-lankische Staatsangehörige könnten visumsfrei nach Indonesien einreisen und der Gesuchsteller könne von dort aus problemlos enge 50 Kontakte zu seiner Familie in Sri Lanka pflegen; seine Angehörigen könnten ihn jederzeit innert weniger Stunden in Indonesien besuchen. Eine solche Beziehungspflege sei bei einem weiteren Aufenthalt in der Schweiz aus geographischen und visumsbedingten Gründen nicht möglich. Insgesamt sei deshalb ein näherer Bezug zu Indonesien als zur Schweiz anzunehmen. Zudem sei Indonesien als Nachbarland von Sri Lanka diesem historisch und religiös gesehen näher als die Schweiz. Dass der Gesuchsteller jedoch noch nie in Indonesien war und über keinerlei Beziehungen zu diesem Land verfügte, hielt das SEM nicht von seinem Entscheid ab. Nach Logik der Behörde wäre jedes Land für die Prüfung eines Asylgesuchs zuständig, das dem Gesuchsteller eine visumsbefreite Einreise ermöglicht. Das SEM hätte also genauso gut würfeln können und irgendein anderes Land für zuständig erklären können, für das ein sri-lankischer Staatsangehöriger kein Visum zur Einreise benötigt. Das Bundesverwaltungsgericht hiess die Beschwerde des Gesuchstellers gegen den Entscheid des SEM gut, hob die vorinstanzliche Verfügung auf und wies die Sache zur neuen Entscheidung an das SEM zurück (Urteil des BVGer E-4371/2018 vom 6. August 2018).

In einem weiteren Fall begründete eine aus dem Irak stammende Gesuchstellerin ihr Asylgesuch damit, dass ihr Ehemann entführt und seine Leiche einige Zeit später mit abgetrenntem Kopf aufgefunden worden sei. Während der Trauerfeier für ihren Mann sei ihr Haus in Brand gesetzt worden. In der Folge sei auch ihr minderjähriger Sohn bedroht worden, weshalb sie sich zur Ausreise mit ihm entschieden habe. Das SEM befand die Asylvorbringen der Gesuchstellerin als nicht glaubhaft, fügte jedoch an, selbst wenn ihr geglaubt werden könnte, so seien ihren Ausführungen keine konkreten Anhaltspunkte zu entnehmen, dass sie und ihr Sohn jemals persönlich belangt worden seien. Es sei festzustellen, dass sie persönlich nie unter asylrelevanten Nachteilen zu leiden gehabt hätte. Aufgrund mangelnder Intensität (!) komme den Asylvorbringen keine Asylrelevanz zu. Was die geltend gemachten Nachteile, wie die mangelnde Sicherheit und der fehlende staatliche Schutz, anbelange, handle es sich um bedauerliche Ereignisse im Kontext der bewaffneten Auseinandersetzung im Irak.

Es drängt sich bei diesem Sachverhalt die Frage auf, wann nach Ansicht des SEM die Schwelle zu einer genügend grossen Verfolgungsgefahr und -intensität wohl erreicht gewesen wäre. Die Entführung und Enthauptung des Ehemannes, die Inbrandsetzung des Zuhauses der Gesuchstellerin sowie die Drohungen, ihren Sohn zu entführen und umzubringen, genügten offenbar nicht. Das Bundesverwaltungsgericht befand die Asylvorbringen entgegen der Ansicht des SEM als glaubhaft und ging von einer massiven Verfolgungsgefahr von hoher Intensität aus, weshalb es die Flüchtlingseigenschaft der Gesuchstellerin und ihres Sohnes feststellte und ihnen Asyl gewährte (Urteil des BVGer E-5782/2017 vom 6. November 2018).

Zu den oftmals schwer nachvollziehbaren Begründungen des SEM kommt die teilweise widersprüchliche Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts. Auch wenn jedes Beschwerdeverfahren als Einzelfall anzusehen ist, gibt es doch Konstellationen, die derart gleichgelagert sind, dass nur eine einheitliche Beurteilung durch das Bundesverwaltungsgericht zu erwarten wäre, zumal dieses in asylrechtlichen Verfahren als einzige und letzte (!) gerichtliche Instanz entscheidet. Dies ist jedoch nicht immer der Fall.

Mediale Präsenz erhielt bspw. das Schicksal einer Gruppe von Kurden, die während mehrerer Wochen am Flughafen Zürich festsassen. Einige gelangten über Brasilien in den Transitbereich des Flughafens Kloten und stellten dort Asylgesuche. Das SEM verweigerte ihnen die Einreise in die Schweiz und wies ihnen den Transitbereich des Flughafens zu (was für einen Zeitraum von maximal 60 Tagen möglich ist). Auf die Asylgesuche trat es nicht ein und ordnete die Wegweisung nach Brasilien an. Zur 51 Begründung führte es an, die Gesuchsteller hätten sich zuvor in Brasilien aufgehalten und könnten dorthin zurückkehren. Gemäss dem Übereinkommen über die internationale Zivilluftfahrt vom 7. Dezember 1944 (nachfolgend Chicago-Übereinkommen; SR 0.748.0) könnten Personen, denen nach Erreichen eines internationalen Flughafens die Einreise in den Zielstaat verweigert werde, an den Ausgangspunkt ihrer Flugreise zurückkehren, unbesehen davon, mit welchen Papieren sie ihre Reise absolviert hätten. Im Fall von zwei Gesuchstellern, die mit Beschwerde ans Bundesverwaltungsgericht gelangten, vollbrachte dieses Erstaunliches: A und B, beide türkische Staatsangehörige, beide vertreten vom gleichen Anwalt, reichten mit einem Tag Unterschied ihre Asylgesuche ein. Beide verbrachten vor ihrem Flug nach Zürich fünf Tage in Rio de Janeiro, beide hatten zum Zeitpunkt des Asylverfahrens in der Schweiz keinen Pass. Vergleichbarer Sachverhalt, vergleichbares Ergebnis? Weit gefehlt. Die Beschwerde von A wurde gutgeheissen, diejenige von B abgewiesen. Weshalb? Im Fall von B schloss sich das Bundesverwaltungsgericht der Argumentation des SEM an und hielt fest, es würden keine Hinweise dafür bestehen, dass Brasilien seinen Verpflichtungen aus dem Chicago-Übereinkommen nicht nachkommen werde. Eine formelle Zusicherung des Drittstaates gegenüber den Schweizer Behörden zur Rückübernahme von Asylsuchenden stelle keine Voraussetzung für das Fällen eines Nichteintretensentscheides dar (Urteil des BVGer D-6057/2018 vom 1. November 2018 E. 5.1.2). Im selben Monat hielt das Bundesverwaltungsgericht im Urteil bezüglich des Beschwerdeführers A hingegen fest: «Soweit das SEM vorbringt, der Beschwerdeführer könne aufgrund des Chicago-Übereinkommens an den Ausgangspunkt seiner Reise zurückkehren und deshalb eine formelle Rückübernahmezusicherung nicht notwendig sei, ist dem entgegenzuhalten, dass damit zwar der Rückflug, jedoch nicht die Einreise in den Ausgangsstaat garantiert ist. Das Chicago-Übereinkommen respektive dessen Anhang 9 begründet keine Verpflichtung des Ursprungslandes, die von der Fluggesellschaft rückbeförderte asylsuchende Person effektiv einreisen zu lassen. […] Aufgrund der gegenwärtigen Aktenlage ist nicht mit genügender Sicherheit erstellt, dass der Beschwerdeführer tatsächlich in Brasilien einreisen kann. Das SEM ist somit verpflichtet, von den brasilianischen Behörden eine Rückübernahmezusicherung einzuholen» (Urteil des BVGer E-6058/2018 vom 29. November 2018 E. 6.3). Wie hat der Rechtsanwalt seinen Klienten wohl diese Urteile erklärt?

Nach der Lektüre solcher Entscheide kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Personen, die Asylgesuche beurteilen, sich der Tragweite ihrer Entscheidungen nicht bewusst sind. Offenbar wird zuweilen vergessen (oder aus politischen Gründen verdrängt), dass im Asylrecht über menschliche Schicksale entschieden wird.

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