Wahrung fremder Interessen, nicht eigener

Stephan BernardWahrung fremder Interessen, nicht eigenerMContraLegem201915658

Wahrung fremder Interessen, nicht eigener

Stephan Bernard

56 Der Anwalt hat fremde Interessen zu wahren. An seiner Patentierung weiss er juristisch viel über Vieles. Ins Berufsleben wird er aber ohne nennenswerte Kenntnis der strategischen, taktischen und psychosozialen Aspekte seiner Profession entlassen. Was es heissen könnte, fremde Interessen zu wahren, und nicht eigene, kognitiv und emotional, in der Erkenntnis und Akzeptanz von Interessen, die in jeder Hinsicht fremd zu den eigenen sind, hinsichtlich des Prestiges und der Selbstachtung, das hat er weder an der Universität noch der Anwaltsprüfung reflektieren müssen. Einige Schlagwörter der Rechtsprechung und der Dogmatik zum Anwaltsgesetz (BGFA) zu kennen, reichte als Auseinandersetzung mit dem Kern seines künftigen Berufsethos aus. Und im Übrigen schienen seinen Examinatoren dogmatische Erörterungen vom ZGB übers SchKG bis hin zum kantonalen Verwaltungsrecht ohnehin wichtiger und waren damit prüfungsüberlebensnotwendiger. Der frisch patentierte Anwalt gleicht daher einem Musiker, der zwar vorzüglich Notenblätter liest, aber kein Instrument bespielt.

Wahrung fremder Interessen, nicht der eigenen, stellt Anforderungen an den Anwalt, die sich nicht leicht umsetzen lassen und vielfach auch widersprüchlich sind.

Weshalb die Anwaltsausbildung diesen beruflichen Zentralnerv mit einer geradezu augenfälligen Blindheit ausblendet, beschäftigt mich seit längerem immer wieder aufs Neue. Ich vermute den Hauptgrund darin, dass sich Juristen hier mit Zwiespältigem, Abgründigem, nicht einfach Justiziablem auseinandersetzen müssten. Dem wollen sie bei der Lösung menschlicher Probleme und Konflikte mit ihrer scheingenauen Dogmatik gerade entkommen. Fremde Interessen zu wahren, lässt sich weder in konzisen Definitionen noch in solid vermessener Gesetzgebung oder Rechtsprechung einfangen. Es handelt sich letztlich um ein kognitives und emotionales Ringen zu einem gelebten Ethos, das sich zumindest an seinen Rändern einer exakten Konturierung entzieht. Dies ist wohl der Grund, warum sowohl die anwaltliche Ausbildung als auch in der Regel selbst die anwaltliche Fortbildung die Thematik meiden. Die fehlende Auseinandersetzung mit der Wahrung fremder Interessen, nicht der eigenen, bleibt damit ein im kollektiven beruflichen Unbewussten belassener anwaltlicher Schatten.

Bei der Verteidigung wegen Kapitalverbrechen kommt ein Prototyp des anwaltlichen Ethos zum Tragen. Nicht trotz, nein, gerade weil er 57 eines Schwerverbrechens verdächtigt wird, bedarf der Beschuldigte eines Verteidigers, der seine Interessen vertritt – und nur seine. Hier spürt der Anwalt am deutlichsten, was es heisst, fremde Interessen zu wahren, nicht seine eigenen. Schuld und Unschuld stehen erst nach dem Verfahren fest. Unabhängig davon, ob die Presse, die Öffentlichkeit, die Strafjustiz und sogar der Anwalt selbst den vermeintlichen Schwerbrecher schon vor dem Abschluss des Verfahrens für überführt halten, hat die Verteidigung für die Optimierung seiner Interessen einzustehen. Es fordert den Anwalt besonders, wenn er einen grossen Ekel von der vermeintlichen Tat spürt, diese moralisch grundsätzlich verurteilt oder die öffentliche Vorverurteilung immens ist. Dem kann er letztlich nur begegnen, indem er entweder das Mandat niederlegt oder von seinen eigenen Gefühlen und seinem Bedürfnis nach sozialer Zugehörigkeit zur Allgemeinheit abstrahiert, um den Zugang zu den konkreten Interessen seines Klienten zu finden. Dabei hat der Anwalt nicht ein Mann ohne Eigenschaften zu sein, sondern einen persönlichen Resonanzraum zu bieten. Dies ermöglicht dem Klienten im besten Fall seine Interessen in, neben und nach dem Verfahren (ansatzweise) zu erkennen und formulieren. Denn Klienteninteressen können weit komplexer sein, als «auf ein freisprechendes oder möglichst mildes Urteil hinzuwirken» (BGE 106 Ia 105). Manchen Klienten ist die Wahrung der persönlichen Haltung wichtiger als ein mildes Urteil, für andere erscheint ein faires Verfahren zentraler als das Resultat des Verfahrens und vielfach stehen verschiedene Klienteninteressen auch in sich im Widerspruch zueinander und lassen sich zumindest nicht gleichzeitig realisieren. Dem Anwalt obliegt es, sich eingehend mit dem Klienten und seinen konkreten Anliegen auseinanderzusetzen und nötigenfalls seine eigenen Vorstellungen einer optimalen Interessensvertretung zurückzustellen, wenn diese den tatsächlichen Interessen des Klienten widersprechen. Gerade das Vertrauen, die Verteidigung engagiere sich effektiv für Beschuldigten- und nicht Anwaltsinteressen, ist für viele Mandanten wichtiger als alles andere; davon hängt jede zielführende, weitere Verteidigungshandlung ab.

Die klassische Thematik einer konsequenten Interessenvertretung bei der Verteidigung eines Schwerverbrechers zeigt sich in Miniatur bei sämtlichen Vertretungen analog. Auch hier bietet die Wahrung fremder Interessen und nicht der eigenen zahlreiche Stolpersteine. Bereits die Selbsterkenntnis der eigenen anwaltlichen Interessen und die Abstraktion von diesen ist ein hoher Anspruch. Das derzeitige kulturelle Leitbild sieht eine defizitär-narzisstische unternehmerische Selbstoptimierung vor, die wenig zu tun hat mit der Kultivierung eines ausgereiften und autonomen Selbst im Sinne eines Individuationsprozesses und schon gar nichts mit der Transzendenz des Selbst im Sinne der Mystik eines Meisters Eckhart oder des buddhistischen edlen achtfachen Pfades. Das Erkennen und Zurückstellen des eigenen Interesses und defizitär-narzisstischen Selbst stehen damit quer in der gesellschaftlichen Landschaft und weisen beinahe schon eine subversive, spirituelle Dimension auf. Ein weiterer, ganz profaner Stolperstein bildet die Wissensasymmetrie zwischen Anwalt und Klient. Der Anwalt darf sich weder dazu verleiten lassen, den eigenen Klienten zu übervorteilen, noch zu glauben, dass er die fremden Interessen besser kennt als dieser selbst. Die Goldene Regel, den anderen so zu behandeln, wie man selber behandelt werden möchte, mag für den Anwalt ein sinnvoller gedanklicher Ausgangspunkt sein. Sie reicht indessen nicht aus. Möglicherweise möchte der Klient gerade eine andere Behandlung als der Anwalt meint in dessen Situation erfahren zu möchten.

Doch selbst wenn es dem Anwalt gelänge, von den eigenen Interessen zu abstrahieren und die effektiven Interessen des Klienten zu erkennen, bleibt für die meisten die anwaltliche Berufsausübung immer noch zumindest auch wirtschaftsbürgerlicher Broterwerb und nicht ausschliesslich staatsbürgerliches Engagement; was zur Wahrung der Klienteninteressen in einem Spannungsverhältnis steht: Sofern der Klient gleichzeitig auch Zahlungsstelle ist, steht die wirtschaftliche Op- 58 timierung des Anwalts in einer prinzipiell antagonistischen Anlage zum finanziellen Interesse des Klienten. Wenn Dritte zahlen, wird die Sache wegen dem zusätzlich ins Spiel kommenden Drittinteresse auch nicht einfacher. Das Drittinteresse deckt sich vielfach weder mit den Klienten- noch dem Anwaltsinteresse. Der Anwalt droht zum Diener zweier Herren zu werden. Dies gilt unabhängig davon, ob die Entschädigung von Bekannten des Klienten, Rechtsschutzversicherungen oder dem Staat ausgerichtet wird. Entweder droht die anwaltliche Unabhängigkeit von explizit oder implizit vorgebrachten (ökonomischen) Drittinteressen beispielweise von zahlenden Bekannten oder Rechtsschutzversicherungen unterlaufen zu werden; oder der anwaltliche Aktionsradius wird finanziell auf das «notwendige Minumum» begrenzt wie bei Pflichtverteidigungen und unentgeltlichen Rechtsverbeiständungen. Akzentuiert wird dies bei der Vertretung gesellschaftlich Marginalisierter wie Sozialhilfebeziehenden, Asylsuchenden oder Strafgefangenen, die einen besonderen anwaltlichen Einsatz erfordern. Die staatliche Entschädigungspraxis ist hier vielfach derart dürftig bzw. wird vielfach sogar ganz verweigert, dass die Anwaltsseelen als bourgeois einerseits und citoyen andererseits geradezu zwangsläufig in Widerstreit geraten müssen: Gerade dort wo Grundrechte besonders gefährdet sind und Betroffenen das Recht Rechte zu haben, fast abgesprochen wird, scheitert deren Wahrnehmung an den finanziellen Ressourcen ganz besonders regelmässig. Seiner rechtsstaatlichen Relevanz zum Trotz, lässt sich die Vertretung solcher fremden Interessen fast nicht anwaltsmarktförmig organisieren. Der Anwalt in seiner Rolle als Wirtschaftsbürger gefährdet damit immer wieder seinen staatsbürgerlichen Auftrag, sämtlichen Menschen unabhängig von deren Herkunft, sozialer Rolle und Finanzkraft, den Zugang zum Recht zu verschaffen.

Am Ende bleibt ein Paradoxon zurück: Die Abstraktion von eigenen Interessen und dem eigenem Selbst ist für die Einlösung des anwaltlichen Kernethos zentral. Aber ohne eigene Antriebskräfte und Kultivierung eines umfassend ausgereiften Selbst fehlte es an dem nötigen persönlichen Resonanzraum für den eigenen Klienten; dieser wiederum ist Voraussetzung, dass der Klient in der Auseinandersetzung mit einem Gegenüber seine Interessen evaluieren kann und die Verteidigung die nötige Durchsetzungskraft bei der Vertretung seiner Interessen gegen aussen erlangt. Der Anwalt bedarf einer greifbaren, konturierten eigenen Persönlichkeit bei idealtypisch gleichzeitiger Abstraktion von bzw. zumindest Realisierung der unweigerlich vorhandenen persönlichen Interessen. Zwischen den eigenen und fremden Interessen finden zwangsläufig wechselseitige Beeinflussungen statt. Die Wahrung fremder Interessen heisst aber weder, sich fremde Interessen zu eigen(en) zu machen, noch seine eigenen auf fremde Interessen zu projizieren. Dem Anwalt obliegt es daher, sich immer wieder bewusst zu machen, wo die eigenen bzw. die fremden Interessen enden, wo sie beginnen und wie sie zusammenspielen.

Die Wahrung fremder Interessen, nicht der eigenen, stellt Anforderungen an den Anwalt, die sich nicht leicht umsetzen lassen und vielfach auch widersprüchlich sind. Und diese Widersprüche lassen sich zu einem grossen Teil letztlich gar nicht auflösen. Eine abschliessende Antwort, was dieser berufliche Kernethos bedeutet, scheitert bereits daran, dass sich verschiedene fremde Interessen der unterschiedlichen Klienten nur scheinbar gleichen. Darüber hinaus verändern sich im Verlauf eines Anwaltslebens auch die eigenen Interessen. Schliesslich stehen die eigenen und fremden Interessen in jeder Konstellation aufs Neue in einem sich verändernden Wechsel- und Zusammenspiel. Hinter einem scheinbar spröden, rationalen Juristenberuf verbirgt sich damit bei gewissenhafter Herangehensweise eine philosophische, fast schon spirituelle Praxis. An jeder beruflichen Wegmarke stellt sich die Grundschwierigkeit immer wieder aufs Neue: Der Anwalt wahrt fremde Interessen, nicht seine eigenen.

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