Politik und Wahrheit

Dimitrios KarathanassisPolitik und WahrheitVerräterische SpracheContraLegem201913437

Politik und Wahrheit

Dimitrios Karathanassis

34 Fake News und Alternative Fakten. Diese Begriffe geistern seit Donald Trumps Amtsantritt durch die Medien. Der Begriff der Fake News mag seit über hundert Jahren existieren, aber erst durch die sozialen Medien gelangte er zu einer gewissen Prominenz. Zudem benutzt ihn Donald Trump regelmässig, um aus seiner Sicht falsche Berichterstattung zu diskreditieren. Der Begriff der «Alternativen Fakten» hingegen ist eine Wortgestaltung von Kellyanne Conway, Beraterin von Donald Trump, welche damit offensichtlich falsche Aussagen des damaligen Pressesprechers des Weissen Hauses, Sean Spicer, zur Anzahl der Besucher bei Donald Trumps Amtseinführung vor dem Kapitol zu rechtfertigen versuchte. «Alternativen Fakten» wurde in Deutschland und Österreich zum «Unwort des Jahres 2017» gewählt.

Beide Begriffe, vor allem im Hinblick auf Donald Trump, haben in intellektuellen Kreisen eine enorme Empörung ausgelöst. Kritische Stimmen erheben sich und warnen, dass diese Begriffe eine Gefahr für die demokratische Ordnung bedeuten würden und es werden Vergleiche zu Orwells 1984 gezogen. Flankierend führen diverse Medien ständig aktualisierte Listen mit den angeblichen Lügen von Donald Trump und werden nicht müde zu betonen, wie oft und wie intensiv er lüge.

Der Kern der Empörung, von Stammtischen bis hin zu Feuilletons, ist dabei folgender: Der Präsident der Vereinigten Staaten lügt und versucht seine Politik durch Fakten zu rechtfertigen, die nicht der Wahrheit entsprechen. Es wird moniert, dass sich die Politik (konkret: Donald Trump) nicht mehr an die Wahrheit gebunden fühlt, sondern durch Lügen versuche, das Volk zu verführen. Ein Rattenfänger, der nicht die Flöte spielt, sondern die Alternativen Fakten bemüht. Und weil die Wahrheit ein so hehrer Wert ist, fühlen sich fast alle aufgerufen, diesem Kreuzzug zur Verteidigung der Wahrheit beizutreten. Von den Kanzeln der Medienhäuser wird der Kampf zur Verteidigung der Wahrheit ausgerufen und ausgerüstet mit Fakten und investigativem Journalismus wird ins Feld gezogen.

Man mag diesem Treiben zustimmen, man mag es sogar befürworten (wer liebt die Wahrheit denn nicht?), aber man muss dabei auch die grosse Gefahr erkennen. Ohne jegliche Begründung wird Politik dem Anspruch ausgesetzt, sich an Wahrheit orientieren zu müssen. Wahrheit aber, das wird schlicht verkannt, ist kein Konzept für Politik. Wahrheit ist ein philosophisches, religiöses und teils metaphysisches Konzept. Politik, als Kampf um Herrschaft verstanden, hat mit Wahrheit hingegen nichts zu tun. Die Idee, dass Politik sich an Wahrheit zu orientieren hätte, ist freilich nicht neu. In Platons Politeia wird dies klar propagiert, aber Platon macht nicht den Fehler, das Konzept der Wahrheit in der Politik durch Politiker oder durch eine demokratische Ordnung erfüllen zu wollen. In seinem der Wahrheit untergeordneten und ihr verpflichteten politischem Idealstaat liegt die Herrschaft bei Philosophen. Sie alleine, welche die Wahrheit erkannt haben, dürfen regieren und den Regierten einen, nämlich ihren, Idealstaat aufdrängen. Nicht zu Unrecht ist dieses Konzept Platons, auch wenn es philosophisch ansprechend sein mag, als faschistoid bezeichnet 35 worden. Denn die Wahrheit eines Einen muss nicht das Konzept sein, nach dem sich ein Anderer in seiner Lebensführung richten muss. Das gilt auch, so sehr sie sich dagegen auch sträuben, für die Naturwissenschaften mit ihren epistemischen und falsifizierbaren/verifizierbaren Methoden. Wahrheit ist nur dann absolut, wenn sie als solche akzeptiert und anerkannt wird.

Wenn nun propagiert wird, dass Politik durch Wahrheit geleitet werden sollte, so wird dabei verkannt, dass dies historisch nie der Fall gewesen ist. Politik ist der Kampf um Herrschaft und beim Kampf um Herrschaft werden immer alle Mittel angewendet. Und wenn Politik nicht mit den Mitteln des Stärkeren, sondern mit demokratischen Mitteln betrieben wird, dann ist Politik auch immer der Versuch, die Mehrheit zu überzeugen. Dass dies anhand von Wahrheit geschehen sollte, ist vielleicht ein frommer Wunsch, aber sicherlich nicht die Realität und auch kein realistisches Unterfangen. Überzeugung ist immer ein Akt, bei dem versucht wird, Subjektivität zur Objektivität zu erklären. Inwiefern dies mit Wahrheit kompatibel sein soll, leuchtet nicht ein.

Der Missbrauch von Mitteln zwecks Herrschaft und Erlangung von Herrschaft wird nicht dadurch verhindert, dass die Politiker (die Herrschaftsstrebenden) sich an die Wahrheit halten, sondern dass deren Herrschaftsstreben durch Gesetze Grenzen auferlegt werden. Es sind das Recht und die rechtlich definierten und legitimierten Institutionen, welche den Missbrauch von Macht verhindern, nicht ein schmallippiges Bekenntnis, dass Herrschaft an Wahrheit gekoppelt würde. Das musste Donald Trump beim diesjährigen Shut Down selbst erfahren. Der Mangel an Gesetzen und rechtlich definierten und legitimierten Institutionen kann sehr wohl dazu führen, dass Regierende ihre Wahrheit als wahr darstellen und darauf aufbauend handeln. Man erinnere sich nur an den bemerkenswerten Auftritt von Colin Powell im UN-Sicherheitsrat im Februar 2003, einige Wochen vor dem Irakkrieg und den Mangel einer Ordnung, dieser Farce Grenzen zu setzen und die darauf aufbauende Invasion des Iraks zu verhindern.

Das Recht und seine Institutionen alleine reichen aber nicht aus. Es braucht zusätzlich mündige Bürger, welche bereit sind, sich selbst ein Bild von den Fakten und den Ereignissen zu machen und damit zu einer Wahrheit zu gelangen. Es bedarf dieser mündigen Bürger, welche kritisch und unentwegt die Versprechen der Politik und der Politiker hinterfragen, welche Fake News und Alternative Fakten als das behandeln, was sie sind: Meinungen und Interpretationen von Ereignissen.

Der Versuch, Politik und Politiker an die Leine der Wahrheit zu legen, mag noch so hehr und erhaben wirken, aber es ist im Ergebnis die Delegation von Verantwortung, weg von den Regierten hin zu den Regierenden. Das Volk, der ursprüngliche Souverän, gibt die Verantwortung, die Wahrheit selbst zu bestimmen, an die Regierenden ab und ermächtigt sie damit, die Stellung als Souverän einzunehmen. Dies mag sehr bequem sein, dies mag sehr entlastend sein und die Hoffnung auf einen guten, fairen und der Wahrheit verpflichteten Herrscher darf gerne gelebt werden. Aber es ist gleichzeitig nicht nur die Aufgabe der (teils als lästig empfundenen) individuellen Verantwortung eines Jeden, sondern eben auch die Aufgabe der Souveränität und die freiwillige Unterordnung unter ein Wahrheitskonzept, das, selbst wenn im Idealfall auf naturwissenschaftliche Fakten abgestützt, ein aufgezwungenen Wahrheitskonzept ist. Und im Ergebnis führt ein aufgezwungenes Wahrheitskonzept vielleicht zur Ruhe und Entlastung, aber eben auch zur Einschränkung der Freiheit und früher oder später zu einem faschistoiden Gebilde, in dem Wahrheit und ihre Definition zur Aufgabe des Staates mutiert und dem Individuum entzogen wird.

Man mag nun einwenden, dass die Medien durch ihren Aufschrei gegen Donald Trumps angebliche Lügen zumindest bewirken, dass jeder Einzelne sensibler für Wahrheit und für Fakten 36 wird. Das aber würde bedingen, dass die Medien in der Tat primär ihre Rolle als vierte (Kontroll-)Gewalt ausüben würden. Und in der Tat, jedes journalistische «auf die Finger der Politik Schauen» ist hilfreich, aber die krasse Divergenz zwischen der Auflistung von vermeintlichen Lügen von Donald Trump im Vergleich zu denen anderer Politiker lässt darauf schliessen, dass es weniger darum geht, einen notorischen Lügner zwecks Rettung der Demokratie zu überführen (denn solche Lügner sind in allen politischen Lagern vorhanden), sondern um die Steigerung des Absatzes der verkauften Zeitungen und Onlineabonnements. Trump polarisiert und Angriffe gegen Trump sind eben verkaufsfördernd. Die Wahrheit wird, in anderen Worten, nicht verteidigt, weil sie die Wahrheit ist, sondern weil ihre Verteidigung ökonomisch wertvoll ist. Und so sehr sich die altehrwürdigen Medienhäuser bemühen, sich als Gralshüter der Wahrheit darzustellen, desto mehr wird deutlich, dass auch sie die Wahrheitssuche ihren ökonomischen und machtpolitischen Interessen unterordnen. Vor allem aber ist die Kontrollfunktion der Medien nicht gleichzusetzen mit dem Ruf, dass Politik sich an Wahrheit zu orientieren hat. Erstere vermag gewisse Verfehlungen der Politik und der Politiker aufzudecken, wo hingegen letzterer nicht nur ein ideologisches Unterfangen darstellt, sondern auch implizit andeutet, dass die Medien die Wahrheit beherrschen und diese ohne Abwägung von Interessen stets verteidigen. Dass dies nicht immer zutrifft, zeigen diverse Beispiele (Stichwort Claas Relotius).

Soll Wahrheit in einem politischen Kontext verstanden werden, so kann damit nur die Wahrheitssuche eines Einzelnen als sein Schutzmechanismus gegen die Herrschaft und gegen das Kollektiv gemeint sein. Der Versuch, Wahrheit in die Politik und in die Verantwortlichkeiten der Herrschenden zu tragen, ist nicht nur absurd, sondern auch gefährlich, weil dabei dieses individuelle Konzept zu einem Konzept umgestaltet wird, das herrschaftslegitimierend sein kann. Das ist in Ordnung beispielsweise für Religionen und ihre Institutionen, denn diese beziehen aus dieser selbstdefinierten Wahrheit nicht nur ihre Legitimation, sondern auch ihre Lehre und ihr Weltbild. Die Herrschaft solcher Institutionen wie der Kirchen, mit dem Anspruch, Wahrheit sprechen und Wahrheit definieren zu können, hat Europa mehrere Jahrhunderte erlebt. Es bedurfte der Aufklärung und der Idee, dass Wahrheit eben nicht durch Dritte, welche im schlimmsten Falle auch noch Herrschaft ausüben, vorgegeben und vorbestimmt werden darf, sondern dass die Definition von Wahrheit eine individuelle Angelegenheit sein muss, als Verantwortung des Mündigen, die Aussagen Anderer zu qualifizieren und dagegen vorzugehen (oder ihnen auch zuzustimmen). Es verwundert daher nicht, dass jedes diktatorische Regime, jede faschistoide Ordnung früher oder später eine allgemein gültige Wahrheit etabliert, der zu widersprechen dem Individuum nicht gestattet ist (Orwell lässt grüssen).

Das Gerede von und die Aufregung über Fake News und Alternative Fakten zielt sicherlich nicht direkt auf die Schaffung einer solchen Ordnung. Indem aber der Anspruch formuliert wird, Politik an Wahrheit zu binden, wird der Nährboden geschaffen für die Möglichkeit einer Politik und von Politikern, die sich eben der vermeintlichen Wahrheit bedienen, um Herrschaft zu erlangen und Herrschaft zu legitimieren. Was auf den ersten Blick noch ansprechend wirken kann, ist im Endeffekt die schleichende Entwicklung, Wahrheit zu entindividualisieren, um sie massentauglich zu machen und um damit ein Herrschaftskonzept zu kreieren (Stichwort Platon).

Der Anspruch, dass Politik sich an Wahrheit orientieren muss, ist nur wenig vom Zugeständnis entfernt, dass Politik die Definition von Wahrheit vornehmen darf. Von Ersterem zu Letzterem bedarf es nur weniger Massnahmen; die Geschichte zeugt von vielen Beispielen. Passiert dies und erhält (oder erlangt) eine Herrschaft das Privileg, Wahrheit zu definieren, dann wird damit auch der Untergang von 37 Freiheit eingeleitet. Freiheit, wie immer man sie definieren mag, fängt immer damit an, sich seine Umwelt und die Ereignisse darin definieren und einordnen zu können. Freiheit ohne das Recht, seine eigene Wahrheit zu leben, ist eben keine Freiheit. Die Restriktionen, welche der Freiheit in einem Rechtsstaat auferlegt werden, sind ein Kompromiss, der auf die Einhaltung allgemeingültiger Regeln zwecks friedlichen Zusammenlebens fusst, nicht aber auf der Absicht, Denk- und Wahrheitskonzepte vorzuschreiben. Die Gedanken sind frei. Und sie müssen es bleiben.

Verlangt man von der Politik, dass sie wahr sein soll und sich an der Wahrheit zu orientieren hat, so gibt man Verantwortung ab. Erwartet man hingegen von der Politik keine Wahrheit, so bleibt man geschärft und kritisch gegenüber allen Aussagen der Regierenden oder solchen, die Regierende werden wollen. Vielmehr noch zwingt eine solche geschärfte und kritische Einstellung den Einzelnen, sich mit der Politik auseinanderzusetzen, sich aktiv einzubringen und nicht in Erwartung eines guten Herrschers, Verantwortung und damit Freiheit abzugeben. Der Einzelne wird damit zum «Zoon Politikon» und zum freien Menschen.

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