Strafe ohne Gesetz?

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Strafe ohne Gesetz?

Lukas Götti

Zu den illegalen Ordnungsbussen für Einkaufstourismus am
Schweizer Zoll

         Ausgangslage

64Am 1. April 2020 machte die Regionalpolizei Zurzibiet mit einem Facebook-Post auf Plakate aufmerksam, welche von den Grenzbehörden an den Grenzübergängen aufgehängt worden waren. Darauf war folgendes zu lesen: (vgl. Zofinger Tagblatt)

«Ausreisen zum Zweck des Wareneinkaufs sind nicht gestattet. Wareneinkäufe werden bei der Einreise in die Schweiz zurückgewiesen, inkl. Ordnungsbusse.»

Dem Foto des Plakats hatte die Regionalpolizei Zurzibiet folgende Erläuterung beigefügt:

«Wie die Grenzwache mitteilt, sind ab sofort Ausreisen zum Zweck von Wareneinkäufen nicht mehr gestattet! Dies betrifft vor allem deutsche Staatsangehörige, welche eine Schweizer Aufenthaltsbewilligung besitzen.»

Schnell wurde die Frage laut, auf welcher gesetzlichen Grundlage dieses Verbot und die für seine Übertretung angedrohten Ordnungsbussen erlassen worden sind. Dieser Frage und den darauf gegebenen Antworten geht der vorliegende Aufsatz nach.

Bussen für Einkaufstourismus gestützt auf die Covid-19-Verordnung 2?

Bei der Suche nach einer gesetzlichen Grundlage für Bussen im Zusammenhang mit der Pandemie kommt natürlich zunächst die Covid-19-Verordnung 2 (SR 818.101.24; fortan Verordnung) in Frage. Die Verordnung stand vom 13. März bis 22. Juni 2020 in Kraft, also rund drei Monate und erfuhr in dieser Zeit 25 Änderungen. Am 1. April 2020 stand die Fassung vom 28. März 2020 der Verordnung in Kraft. Darin wurde zwar durchaus einigen Personenkategorien der Grenzübertritt untersagt und für den Fall der Nichtbeachtung dieses Verbotes auch Strafen angedroht, allerdings gerade nicht für den sogenannten Einkaufstourismus.

Art. 3 Abs. 1 der Verordnung bestimmte zum besagten Zeitpunkt nämlich, dass allen Personen aus einem Risikoland oder -region die Einreise (!) in die Schweiz verweigert wird, sofern sie nicht u. a. über das Schweizer Bürgerrecht (lit. a) oder über ein Reisedokument und einen Aufenthaltstitel, namentlich eine schweizerische Aufenthaltsbewilligung verfügten (lit. b).

Bürgerrecht und Aufenthaltsbewilligung sind aber nicht alle, sondern lediglich die erstgenannten Rechtsgründe, die eine Verweigerung der Einreise ausschliessen. Art. 3 Abs. 1 listete für den Zeitpunkt des 1. April 2020 noch eine ganze Reihe von weiteren Einreisegründen auf, wozu u. a. auch die blosse Absicht auf Durchreise (lit. e), gewerblichen Warentransport (lit. d) oder auch nur die Zusicherung einer Aufenthaltsbewilligung gehörten (lit. b 2.).

Die bundesrätlichen Äusserungen in den Medien widersprachen also unmittelbar und direkt dem ureigenen, kurz zuvor erlassenen Verordnungsrecht.

Von einem Ausreiseverbot ganz allgemein, oder zu irgendwelchen spezifischen Zwecken, sei es zur Angehörigenpflege, Kinderbesuch, Wareneinkauf oder selbst zwecks Angelausflugs, sagte die Verordnung überhaupt nichts; ein solches Ausreiseverbot war in ihr also gar nicht vorgesehen.

Die Verordnung konnte also nicht als gesetzliche Grundlage dienen. Nicht nur verbot sie 65schlicht niemandem die Ausreise, sondern sie erlaubte Personen mit Schweizer Aufenthaltsbewilligung oder Bürgerrecht (u. a.) sogar explizit und unabhängig vom Zweck die Einreise in die Schweiz.

Wer eine Aufenthaltsbewilligung besass durfte mithin am 1. April 2020 – zumindest nach Schweizer Recht – unter der Verordnung unbeschränkt häufig und vollständig unabhängig vom Zweck aus- und einreisen. Eine gesetzliche Grundlage für Ordnungsbussen wegen Einkaufstourismus, die «vor allem deutsche Staatsangehörige» anvisiere, fand sich in der Verordnung nicht.

Es überrascht also wenig, dass die Sache innert weniger Tage beträchtliche mediale Aufmerksamkeit erhielt. Am 3. April 2020 berichtete – als soweit im Nachhinein ersichtlich – erstes Medium das Zofinger Tagblatt über den hier zu Beginn erwähnten Facebook-Beitrag der Regionalpolizei Zurzibiet (vgl. Zofinger Tagblatt.ch). Das Zofinger Tagblatt kam zwar anfänglich noch durchaus zum korrekten Schluss, dass aufgrund der Verordnung, auch in der zum Zeitpunkt der Veröffentlichung in Kraft stehenden Version vom 2. April 2020, Menschen mit Schweizer Pass oder Aufenthaltsbewilligung nach Schweizer Recht «theoretisch» frei ein- und ausreisen durften. Im Artikel wurde allerdings zur Frage, ob deutsche Staatsangehörige mit Wohnort in der Schweiz «Einkaufstourismus» betreiben dürften, eine Aussage Bundesrätin Karin Keller-Suters vom Vortag (also 1. April) zitiert, wonach es für Reisen ins Ausland einen «zwingenden Reisegrund» geben müsse und das erfasse laut Keller-Suter «Sicher nicht Einkaufstourismus oder weil sie sich gerade langweilen.» (vgl. hierzu: YouTube.)

Diese Aussagen waren von der Verordnung schlicht nicht gedeckt. Die einzige relevante Anpassung des fraglichen Art. 3 der Verordnung auf den 2. April 2020 war dessen Abs. 1bis, der für Menschen mit Grenzgängerbewilligung die Einreise (erneut, gerade nicht die Ausreise!) nur noch aus «beruflichen Gründen» zuliess. Davon abgesehen war dieser Art. 3 aber unverändert und damit durfte jeder Mensch mit Schweizer Pass oder Aufenthaltsbewilligung ohne einen zwingenden Reisegrund ins Ausland reisen und wieder in die Schweiz zurückkehren. Und das auch dann, wenn die Reise nur dem Einkaufen diente oder gar lediglich zur Linderung von Langeweile. Zumindest gestützt auf Schweizer Recht (und darum geht es vorliegend, denn ausländische Rechts- und Zollordnungen vermögen daran nichts zu ändern).

Die bundesrätlichen Äusserungen in den Medien widersprachen also unmittelbar und direkt dem ureigenen, kurz zuvor erlassenen Verordnungsrecht. Dass als Folge davon beträchtliche Verwirrung entstand, überrascht nicht wirklich. So hält denn auch der Artikel des Zofinger Tagblatts unter dem Titel «Ab sofort drohen Ordnungsbussen» – zunächst noch völlig korrekt – fest, dass aufgrund des neuen Art. 3 Abs. 1bis und des bereits zuvor bestehende Art. 3 Abs. 4 der Verordnung, neu Bussen für Grenzgänger vorgesehen seien, die sich nicht an die Reisebestimmungen hielten. Gleich im nächsten Satz aber lässt sich das Tagblatt aber wieder verwirren. Denn der Mediensprecher der Eidgenössischen Zollverwaltung (EZV) 66antwortete auf die Frage «Wer zum Einkaufen ins Ausland fährt, wird also ab sofort gebüsst?» mit Ja. Das entsprach so aber schlicht nicht der Gesetzeslage. Dass der Bundesrat und seine Verwaltung die eigentlich einfache Frage, wer denn nun wann genau wofür eine Ordnungsbusse riskiere, nicht korrekt beantworten konnten, mag an mangelhafter Kenntnis des selbst erlassenen Rechts liegen, was angesichts der beinahe hysterischen Frequenz der Änderungen der Covid-19-Verordnung 2 nicht verwundern würde. Letztlich bleiben aber die Gründe dieser Unkenntnis gleichgültig. Sie müssten aber strafrechtlich beachtlich sein: Wenn derjenige, der eine Regel erlässt, ihren Inhalt nicht korrekt wiederzugeben vermag, so geht es wohl nicht an, diese Kenntnis dem Regelunterworfenen einfach zuzuschreiben.

Einkaufstourismus bleibt verboten?

In der Folge hat der Bundesrat auf den 17. April 2020 einen Art. 3a in die Verordnung eingefügt, der nun das Verbot von Einkaufstourismus einführte. Zudem wurde Art. 10f um Abs. 1 lit. d ergänzt, der für Verstösse gegen diesen Art. 3a Busse androhte. Ausserdem wurde das Ordnungsbussenverfahren für Verstösse gegen das Verbot des Einkaufstourismus anwendbar erklärt (Art. 10f Abs. 4 und 5 der Verordnung).

Begleitet wurde die Änderung der Verordnung von einer Medienmitteilung, die den im Lichte der eben erläuterten Rechtslage doch überraschenden Titel trug: «Coronavirus: Einkaufstourismus bleibt verboten» (vgl. admin.ch). Überraschend ist das, weil bisher Einkaufstourismus eben gerade nicht verboten war und ergo auch nicht verboten «bleiben» konnte. Wenn aber der Bundesrat der Überzeugung war, Einkaufstourismus sei bereits verboten, fragt sich doch ernstlich, warum dann die Einführung des fraglichen Art. 3a notwendig gewesen war. Tatsächlich ist Einkaufstourismus erst am 17. April 2020 erstmals verboten worden. Nur am Rande sei vermerkt, dass die Formulierung der Medienmitteilung

Eine geheimnisvollverspielt zwischen den Zeilen der Verordnung hervorschimmernde, implizite Strafdrohung ist von vornherein unzulässig.

zumindest merkwürdige anmutet, durch die Anpassungen und Präzisierungen vom 17. April werde das Bussenregime nun «explizit» geregelt.

Art. 1 StGB (eine Bestimmung, man kann es nicht oft genug wiederholen, mit Verfassungsrang!) bestimmt ausdrücklich, dass Strafen – und Bussen und Ordnungsbussen sind Strafen (vgl. BGer 6B_855/2018 , E. 1.5, allerdings mit Ausnahme des Art. 6 OBG, vgl. hierzu Stefan Maeder, Sicherheit durch Gebühren? AJP 2014, 679-691) – überhaupt nur ausdrücklich, also explizit angedroht werden dürfen. Eine geheimnisvoll-verspielt zwischen den Zeilen der Verordnung hervorschimmernde, implizite Strafdrohung ist von vornherein unzulässig.

Unhaltbare Rechtfertigungen

Mehr und mehr unter medialem Druck nahmen auch die Rechtfertigungsversuche der Behörden immer groteskere Ausmasse an. Denn offenbar wurden Personen mit Schweizer Bürgerrecht oder Aufenthaltsbewilligung auch aus anderen Gründen, als wegen Einkaufstourismus Ordnungsbussen auferlegt. Da hierfür überhaupt nie eine gesetzliche Grundlage bestand, versuchte sich die EZV mit Behauptung zu rechtfertigen, das bestrafte Verhalten sei zwar 67nicht ausdrücklich verboten, es sei aber «nicht im Sinne des Bundesrates» (vgl. SRF). Der fragliche Medienbericht vom Schweizer Radio und Fernsehen stammt vom 8. Mai 2020. Zu diesem Zeitpunkt stand die Verordnung vom 30. April 2020 in Kraft. An den einschlägigen Art. 3 und 3a hatte sich seit dem 17. April nichts Relevantes geändert. Insofern drückte sich am 8. Mai 2020 der Sinn des Bundesrates klar in seiner Verordnung aus und zwar dahingehend, dass Personen, die über das Schweizer Bürgerrecht oder eine Aufenthaltsbewilligung (u. a.) verfügen,  , nicht gebüsst werden durften, sofern sie die Grenze nicht im Rahmen einer «ausschliesslich dem Einkaufstourismus» dienenden Reise überquerten.

Zu diesen Bussen, die Personen mit Schweizer Bürgerrecht oder Niederlassungsbewilligung ohne Rechtsgrundlage auferlegt wurden, musste auch der oberste Schweizer Zöllner, Dr. Christian Bock Stellung nehmen. Am Point de Presse vom 11. Mai 2020 wurde ihm folgende Frage gestellt (ab 52min 45sek vgl. YouTube):

«Ich habe zwei Fragen an Herr Bock zu der Praxis am Zoll der Bussen generell. Es war so, dass in den ersten Wochen zumindest nach der Grenzschliessung, Menschen mit Schweizer Pass oder Niederlassungsbewilligung in der Schweiz Bussen verhängt erhielten. Diese Bussen wurden von Rechtsgelehrten als unzulässig beurteilt, also es fehlt die rechtliche Grundlage dazu. Wie kam es zu dieser Praxis und wie ist es heute, erhalten Menschen die Ausflüge machen ins Ausland eine Busse, auch wenn sie nicht eingekauft haben?»

Die Antwort von Herrn Bock lautet wie folgt:

«Also das erste: Sie sagen es richtig, es wird von Rechtsgelehrten als unzulässig erachtetet. Ich darf das als Jurist sagen: Zwei Juristen, drei Meinungen. Das wird man nachher sehen, ob das einer gerichtlichen Überprüfung standhält. Auch wir werden selbstverständlich unsere Praxis kritisch überlegen. Sehen sie, wir sind eine Einsatzorganisation und etwas Schönes in einer Einsatzorganisation ist der sogenannte After-Action-Review. Da sitzt man zusammen und sagt, was hat gut funktioniert und was hat schlecht funktioniert und ich kann ihnen versichern, da werden auch solche Fragen mit hineinkommen.

Zweitens, nein, das war in der Anfangssituation notwendig. Sie erinnern sich, dass Herr Bundesrat Berset immer gesagt hat, wir sind in einem Prozess drin. In der Anfangssituation war die Situation an den Grenzen sehr unübersichtlich, es war ein belastetes System, man wusste noch nicht genau, wie sieht das Risiko aus. Jetzt hat sich das System eingespielt und aus dem Grund hat man dann natürlich auch die Praxis entsprechend angepasst. Und ganz konkret auf ihre Frage: nein, dort werden keine Bussen verhängt. Man hat ja auch die Rechtsgrundlage geändert. Die ursprüngliche Grundlage, das war ein relativ allgemein gehaltener Artikel, Art. 127 des Zollgesetzes. Inzwischen hat man ein Ordnungsbussentatbestand erhoben und dem auch Rechnung getragen. Wenn sie ein einfaches Beispiel möchten, es ist wie im Strassenverkehrsrecht. Im Strassenverkehrsrecht haben sie allgemeine Bussenartikel und sie haben zu einer Vereinfachung des Verfahrens dann einen Ordnungsbussentatbestand. Bis sie aber zu einem Ordnungsbussentatbestand kommen, brauchen sie eine gewisse kasuistische, eine Fallerfahrung und die haben wir jetzt entsprechend bekommen.»

Daraus ergeben sich primär zwei Fragen. Nämlich (1), ob Art. 127 Zollgesetz (ZG) für den Zeitraum vor der Einführung des Verbots des Einkaufstourismus in der Verordnung als gesetzliche Grundlage herangezogen werden kann und, (2) ob die Analogie zu Art. 90 SVG korrekt ist.

Bussen für Einkaufstourismus gestützt auf das Zollgesetz?

Innerhalb von Art. 127 ZG kommen – mit fest zusammengekniffenen Augen – höchstens die Absätze 1 und 2 in Frage. Sie lesen sich, unter der Marginalie „Ordnungswidrigkeiten“, wie folgt: 68

1 Sofern nicht der Tatbestand einer Zollwiderhandlung erfüllt ist, wird mit Busse bis zu 5000 Franken bestraft, wer vorsätzlich oder grobfahrlässig verstösst:

  a. gegen eine Vorschrift der Zollgesetzgebung, eines völkerrechtlichen Vertrags oder gegen eine ihrer Ausführungsbestimmungen, soweit ein Erlass die Übertretung dieser Vorschrift für strafbar erklärt; oder

   b.  gegen eine unter Hinweis auf die Strafdrohung dieses Artikels an ihn gerichtete Verfügung.

2 Widerhandlungen gegen mündliche Anordnungen des Personals der EZV oder gegen Anordnungen, die durch Signale oder Tafeln getroffen werden, werden mit Busse bis zu 2000 Franken bestraft. Für die Anordnung ist kein Hinweis auf die Strafdrohung dieses Artikels erforderlich.

Art. 127 ZG ist eine Blankettstrafnorm, also eine Strafnorm, die zwar eine Strafe androht, aber für die (konkrete) Umschreibung der Tathandlung auf eine andere Norm verweist. Eine Blankettstrafnorm enthält typischerweise zwar durchaus einen Tatbestand, allerdings in stark abstrakter Form. So auch bei Art. 127 Abs. 1 lit. b ZG wo, ganz ähnlich wie bei Art. 292 StGB, der Tatbestand mit dem Verstoss gegen eine an den Täter gerichtete Verfügung umschrieben wird. Einen konkreteren, und damit überhaupt erst befolgbaren Tatbestand liefert eine Blankettstrafnorm in der Regel mit dem Verweis auf eine andere Norm.

Damit wird aber der Verweis auf Art. 127 ZG von vornherein suspekt, denn damit dieser Verweis irgendetwas leisten kann, muss zugleich eine andere Norm genannt werden. Blankettstrafnormen können alleine schliesslich gar keine Strafbarkeit begründen. Wenn also die EZV als gesetzliche Grundlage für Bussen wegen Einkaufstourismus eine Blankettstrafnorm angibt (Art. 127 ZG), weiss man schon alleine deshalb, dass damit nur die Hälfte der gesetzlichen Grundlage angeben worden ist. Ohne dass auf einen Tatbestand in einer anderen Norm verwiesen wird, die den abstrakten Tatbestand der Blankettstrafnorm konkretisiert und damit genügen präzise umschreibt, dass eine Befolgung – und entsprechend im umgekehrten Fall auch der Vorwurf der Nicht-Befolgung – überhaupt erst möglich werden, besteht für einen Vorwurf der Nicht-Befolgung schlicht keine gesetzliche Grundlage. Wollte man das anders sehen, so wäre das etwa so, als würde man auf der Strafandrohung nach Art. 292 StGB beharren, wäre aber nicht in der Lage, die Verfügung anzugeben, die das relevante Verhalten umschreibt.

Analog und deutlicher gesprochen: Würde eine Behörde Menschen mit Bussen bestrafen, weil sie einen auf einer Stange aufgehängten Hut nicht grüssten– worauf die Behörde mit entsprechenden Plakaten hinweisen würde, könnte sich die Behörde nicht mit einem Verweis auf Art. 292 StGB rechtfertigen. Art. 292 StGB ist nur anwendbar, wenn die Behörde von vornherein die Kompetenz hat, per Verfügung allfälligen Passanten eine Hutgrüsspflicht aufzuerlegen. Hat sie das nicht, nützt ein Verweis auf Art. 292 StGB nichts. Analog – und damit analog falsch – ist aber die Argumentation der EZV mit Art. 127 ZG.

Lässt man diese Einwände fürs Erste beiseite und schaut sich die Referenzpunkte, die Art. 127 ZG erwähnt, an, verbessert sich das Bild allerdings nicht:

 Art. 127 Abs. 1 lit. a ZG verweist auf die Zollgesetzgebung, die völkerrechtlichen Verträge sowie die dazugehörigen Ausführungsvorschriften. Art. 127 Abs. 1 lit. b ZG verweist dagegen auf Verfügungen und Art. 127 Abs. 2 ZG schliesslich verweist auf mündliche Anordnungen oder auf Signale oder Tafeln.

Ein völkerrechtlicher Vertrag, der die Ausreise zum Zwecke des Einkaufstourismus untersagen würde, existiert nicht. Am ehesten kommen noch die folgenden völkerrechtlichen Verträge in Frage: (1) das Abkommen vom 21. Juni 19992 69zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit und (2) die Verordnung (EU) 2016/399 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex). Beide aber zielen viel eher auf einen möglichst ungehinderten Grenzverkehr. Man wird also kaum Glück haben, wenn man da eine gesetzliche Grundlage für das Verbot von Einkaufstourismus mit zugehöriger Ordnungsbusse sucht.

Auch die Zollgesetzgebung, also das ZG, enthält keine Bestimmung, die es der EZV erlauben würde, Ausreisen für bestimmte Aktivitäten zu untersagen. Daher erübrigt sich auch die Suche nach Ausführungsvorschriften. Damit ist Art. 127 Abs. 1 lit. a ZG nicht anwendbar und auch die Verfügungen aus Abs. 1 lit. b und die Anordnungen, ob mündlich oder per Tafeln, fallen weg. Denn auch für Verfügungen und Anordnungen von Seiten der Behörden, wäre wiederum eine gesetzliche Grundlage notwendig.

Als Abgrenzungsbeispiel und zur Illustration, wofür Art. 127 ZG zulässigerweise vorgesehen wäre, mag folgende Überlegung genügen: Die Zollbehörden dürfen gestützt auf Art. 101 ZG Personen anlässlich des Grenzübertritts anhalten. Gestützt auf diese Norm dürfen sie anordnen, dass die betreffende Person ihr Fahrzeug anhält, abstellt, aussteigt und sich im Hinblick auf zollbehördliche Abklärungen in die Räumlichkeiten der Zollbehörde begibt. Weigert sich eine angehaltene Person solchen Anordnungen Folge zu leisten, kommt eine Bestrafung nach Art. 127 ZG in Frage.

Analogie zum Strassenverkehrsgesetz

Auch die Analogie zum Strassenverkehrsgesetz überzeugt nicht. Ordnungsbussen im Strassenverkehrsrecht sind im Anhang 1 der Ordungsbussenverordnung (OBV) geregelt. Sie kommen laut Ordnungsbussengesetz (OBG) dann zur Anwendung, wenn (1) eine Übertretung nach einem Gesetz oder einer Verordnung begangen wird, die von Art. 1 OBG aufgelistet werden, und (2) der Übertretungstatbestand nach Art. 1 Abs. 2 OBG in einer der in Art. 15 OBG genannten Listen aufgeführt ist, sowie (3) keine der Ausnahmen der Art. 4 OBG oder 1 Abs. 3 OBG vorliegt. Sind diese Voraussetzungen gegeben, wird das vereinfachte Ordnungsbussenverfahren nach OBG angewandt. Dabei handelt es sich um Strafrecht, weswegen auch die strafrechtlichen Grundsätze gelten, mit der einzigen Ausnahme, dass aufgrund von Art. 1 Abs. 5 OBG Vorleben und persönliche Verhältnisse der beschuldigten Person nicht berücksichtigt werden.

Ein Beispiel wäre etwa das Fahren mit einem Motorrad auf einem Trottoir, was laut Ziffer 301 der Bussenliste 1 in Anhang 1 der OBV mit einer Ordnungsbusse von 100 CHF bestraft wird. Dieser Ordnungsbussentatbestand legt die Ordnungsbusse für die Missachtung von Art. 43 Abs. 2 SVG fest. Und hier liegt auch der kleine, aber feine Unterschied zum gewagten zollbehördlichen Analogieschluss zwischen Ordnungsbussen im Strassenverkehr und den Einkaufstourismus-Ordnungsbussen an der Grenze: Das Fahren mit einem Motorrad auf einem Trottoir ist erstens ohne OBG bereits verboten (Art. 43 Abs. 2 SVG) und zweitens auch ohne OBG bereits mit Strafe bedroht (Art. 90 Abs. 1 SVG). Das OBG und die OBV verändern diesbezüglich nur, dass der Bussenbetrag festgelegt ist und im vereinfachten Ordnungsbussenverfahren ausgesprochen wird, statt in einem ordentlichen Strafverfahren.

Ganz anders hingegen die Ordnungsbussen für Einkaufstourismus, für die vor dem 17. April eben gerade keine gesetzliche Grundlage existierte und für die daher auch nicht eine «gewisse kasuistische, eine Fallerfahrung» entstehen kann. Kasuistik bedingt eine gesetzliche Grundlage. Eine Behörde hingegen, die an den Landesgrenzen stationiert, anderen Menschen ohne gesetzliche Grundlage Geld abnimmt, 70betreibt rechtlich betrachtet nicht Kasuistik, sondern höchstens ungerechtfertigte Bereicherung und Wegelagerei.

Wie weiter?

Das Bundesstrafgericht hatte sich kürzlich mit der Sache zu befassen und kam zum Schluss, dass den Ordnungsbussen für Einkaufstourismus bis zum Erlass von Art. 3a der Verordnung jede gesetzliche Grundlage fehlte (vgl. hierzu SRF).

Die zeitweilig recht intensive Berichterstattung hat auch die Geschäftsprüfungskommission des Ständerates (GPK-S) auf das Vorgehen der Zollverwaltung aufmerksam werden lassen. Die GPK-S kündigte in ihrem Jahresbericht 2020 vom 26. Januar 2021 (abrufbar unter: parlament.ch, zitierte Stelle S. 78 f.) an sich «[…] insbesondere mit den von der EZV ausgesprochenen Bussen, der Kommunikation der EZV während der Krise und der Zusammenarbeit der verschiedenen Behörden sowohl bei der Vorbereitung der Umsetzung der Beschlüsse als auch bei deren praktischen Umsetzung vor Ort zu befassen». Der entsprechende Bericht ist am 25. Juni 2021 publiziert worden (abrufbar unter: parlament.ch).

Das rechtsstaatliche Trauerspiel mit der an den Grenzen der Schweiz (und der Legalität) «Kasuistik» betreibenden «Einsatzorganisation» wird also wohl noch das eine oder andere Nachspiel haben.

Vgl. auch die Videos auf unserem Youtube-Kanal:
- ContraLegem Aktuell, Nr. 1a - Strafe ohne Gesetz.
- ContraLegem Aktuell, Nr. 1b - Strafe ohne Gesetz.

Download
Strafe ohne Gesetz, M, ContraLegem 2021/2, S. 64-70
Lukas Götti
CL21-2M-Zollbussen_Götti.pdf
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