Leserbrief Praktikanten als Richter des Zwangsmassnahmengerichts?

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«Praktikanten als Richter des Zwangsmassnahmengerichts?» ad ContraLegem 2021/1

Ein Leserbrief


89Mit einigem Erstaunen haben wir Kenntnis genommen vom Artikel «Praktikanten als Richter des Zwangsmassnahmengerichts? — Rechtsstaatlichkeit als Schmierentheater in der Ausgabe ContraLegem 2021/1.

Die darin erhobenen Vorwürfe an die Adresse unseres Regionalen Zwangsmassnahmengerichts Berner Jura-Seeland (ZMG) wiegen schwer. Wir bedauern es sehr, im Vorfeld nicht zum Faktencheck kontaktiert worden zu sein. Da der Verfasser des Artikels offenbar anonym bleiben mochte, richten wir unsere nachträglichen Bemerkungen zum Artikel an Sie als Herausgeber. Wir können die Vorwürfe jedenfalls nicht unkommentiert im Raum stehen lassen.

Folgende Behauptungen im erwähnten Artikel entsprechen nicht den Tatsachen resp. erwecken einen falschen Eindruck:

Ausschliesslich Zivilrichter als ZM-Richter

Aktuell gibt es 10 Zwangsmassnahmenrichter/innen (ZMR) am Regionalgericht Berner-Jura Seeland (RG BJS). Der kantonale Staatskalender ist offenbar nicht aufdatiert. Wir haben dies der zuständigen Stelle gemeldet. Es ist zutreffend, dass alle ZMR in Biel erstinstanzlich der Zivilabteilung angehören. Im Kanton Bern wird jedoch niemand als Zivilrichter/in oder Strafrichter/in gewählt, sondern als Gerichtspräsident/in. Wahlvoraussetzung dafür sind fundierte Kenntnisse in beiden Rechtsgebieten. Die Zuteilung auf die Straf- oder Zivilabteilung hangt letztendlich von organisatorischen Faktoren ab. Es kommt auch immer wieder zu Abteilungswechseln. In Biel sind so aktuell die Hälfte der ZMR ehemalige Richter/innen der Strafabteilung.

ZMG als «Nebengeschäft», keine separate Zeit einberechnet

Seit Jahren verfügt das RG BJS für seine ZMG-Aufgaben Ober ausgeschiedene Richterstellenprozente. Aktuell sind dies 70 Stellenprozent welche im Verhältnis zum jeweiligen Anstellungspensum auf die 10 ZMR aufgeteilt sind. Die ZMG-Einsätze der einzelnen Richter/innen finden jeweils wochenweise von Montag zu Montag statt, inkl. Pikett über das Wochenende. Eine Pikettwoche hat im Schnitt 8.5 Geschäftseingänge. Bei 100 Stellenprozent kommt ein/e Richter/in wahrend 7-8 Wochen jährlich zum Einsatz. Die Richter/innen können sich Monate im Voraus auf diese Pikett-Wochen einstellen und ihre Kalender entsprechend organisieren.

Keine Zeit für ZMG wegen notorischer Gesamtüberlastung in Biel

Um den seit der Reorganisation im Jahr 2011 gestiegenen Eingangszahlen gerecht zu werden, hat die Geschäftsleitung des Obergerichts mit Verfolgung vom 23. Februar 2017 die Gerichtspräsidenten des Kantonalen Zwangsmassnahmengerichts (KZMG) per 1. Marz 2017 und seither jährlich wiederkehrend als ausserordentliche 90Gerichtspräsidenten für das RG BJS eingesetzt. Seither kann das ZMG somit auf die Unterstützung von weiteren drei Richtern zahlen. Im Jahr 2020 Übernahm das KZMG total 60 ZMG-Geschäfte des RG BJS. Unabhängig davon wird jedem einzelnen ZMG-Fall die gebührende Aufmerksamkeit geschenkt; wir nehmen unsere richterliche Verantwortung auch in Phasen hoher Arbeitslast sehr ernst.

Entscheidkompetenz wird an Praktikanten delegiert

Im Jahr 2020 hatte das ZMG am RG BJS 455 Geschäftseingänge. Davon wurden 12 infolge Unzuständigkeit, Rückzugs oder Gegenstandslosigkeit erledigt. Von den verbleibenden 443 Geschäften wurden 60 vom KZMG und 383 vom RG BJS behandelt. 15 Entscheidentwürfe wurden von Gerichtsschreiber/innen verfasst. 79 Entscheide wurden samt Begründung von den zuständigen ZMR selber redigiert, ohne Mitwirkung eines Praktikanten oder eines Gerichtsschreibenden. Die verbleibenden 349 Entscheidentwürfe wurden von Praktikantinnen und Praktikanten lediglich vorbereitet. Teilweise wurden sie dabei von Gerichtsschreiber/innen betreut. Jedes dieser Dossiers wurde vom zuständigen ZMR studiert, je nach Fall bereits vorgängig instruiert und der vorgelegte Entscheidentwurf sodann persönlich korrigiert resp. Oberarbeitet. Dies betrifft auch das Entscheidergebnis selbst: Insgesamt wurden in 73 der 443 Falle die Anträge der Staatsanwaltschaft teilweise oder ganz abgewiesen (Haftentlassung, Kürzung der beantragten Haftdauer, mildere Ersatzmassnahmen, verweigerte Entsiegelungen etc.). Die Staatsanwaltschaft unterlag somit in jedem sechsten der beurteilten Geschäfte mindestens teilweise. In fünf weiteren Fällen wurden Verfahrensverletzungen verbindlich festgestellt (Verletzung des Beschleunigungsgebots und Fristverstosse). Es ist zutreffend, dass die Praktikantinnen und Praktikanten — wie übrigens in jeder der vier bernischen Gerichtsregionen — gerade in den schriftlichen Massengeschäften und im ZMG oft zum Einsatz kommen. Es sei daran erinnert, dass sie alle Ober einen juristischen Masterabschluss verfügen. Ihr Einsatz in Summar- und ZMG-Fallen entspricht dem Ausbildungsauftrag der Gerichte. Gerade in solchen Verfahren erlernen Praktikantinnen und Praktikanten an der Seite von Gerichtsschreibenden und Richter/innen das Handwerk der strukturierten Entscheidbegründung. Dass die ZMR dabei auch gerade noch ihre Entscheidkompetenz abtreten sollen, ist eine haltlose Behauptung. Gleiches gilt für die Unterstellung, Praktikantinnen und Praktikanten würden systematisch von der Richterschaft angewiesen, ihre Entscheidentwürfe nach den Anträgen der Staatsanwaltschaft zu richten. Das gerichtsinterne Merkblatt zur redaktionellen Strukturierung von ZMG-Entscheiden enthält keine solche Anweisung. Im Gegenteil wird dort ausdrücklich auf das Selbstverständliche hingewiesen, dass Inhalt und Aufbau des individuellen Entscheids letztendlich in der Kompetenz des jeweilig zuständigen ZMR steht. Auch in der Betreuung der Praktikantinnen und Praktikanten durch die Gerichtsschreiberei sind keine Anweisungen zur systematischen Gutheissung der staatsanwaltlichen Anträge vorgesehen. Praktikantinnen und Praktikanten werden generell ermutigt, möglichst umfassend und kritisch zu subsumieren und Textbausteine lediglich für die Rechtstheorie zu verwenden. Die beschuldigten Parteien sind zudem in allen unseren Haftverfahren anwaltlich vertreten. Jeder unserer Entscheide ist beschwerdefähig. 2020 wurden insgesamt in 24 der 443 Fallen Beschwerde gegen den ZMG-Entscheid erhoben. Auf sechs der Beschwerden wurde oberinstanzlich nicht eingetreten resp. sie wurden abgeschrieben und eine Beschwerde ist noch am Bundesgericht hängig. Von den verbleibenden 17 Beschwerden wurden 14 oberinstanzlich abgewiesen. Nur gerade 3 Beschwerden wurden teilweise oder ganz gutgeheissen und führten zu einer Abänderung des betreffenden ZMG-Entscheids.

Die Art und Weise, wie hier ein Regionalgericht — ohne vorgängige Überprüfung der Fakten — in einem öffentlich zugänglichen juristischen Periodikum von anonymer Seite verunglimpft 91wird, scheint uns unreflektiert und unprofessionell. Wir vertrauen jedoch darauf, dass Sie unseren Bemerkungen die nötige Beachtung schenken und die Tatsachen richtigstellen werden.


Unterschriften

Gerichtspräsidentin Gutmann

Gerichtspräsident Horisberger

Gerichtspräsidentin Jacober

Gerichtspräsidentin Dr. iur. Marti-Schreier

Gerichtspräsidentin Miescher

Gerichtspräsidentin Schwendener

Gerichtspräsident Sidler

Gerichtspräsident Walser

Gerichtspräsident Wuillemin

Gerichtspräsidentin Würsten

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Leserbrief «Praktikanten als Richter des Zwangsmassnahmengerichts?» ad ContraLegem 2021/1, Leserbrief, ContraLegem 2021/2, S. 89-91
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