Strafe definieren 2: Strafe als Durchsetzung?

M. A. NiggliStrafe definieren 2: Strafe als Durchsetzung?MContraLegem202126163

Strafe definieren 2: Strafe als Durchsetzung?

M. A. Niggli

Die Vorstellung, Strafe setze Regeln durch bzw. könne ein Verhalten erzwingen, geht fehl, und zwar notwendigerweise.

61Eine Strafe setzt nichts durch, weil sie nichts durchsetzen kann. Strafe als Regeldurchsetzung zu verstehen, verkennt nicht nur ihren Charakter, es behauptet Unmögliches. Das Fehlverständnis von Strafe als Durchsetzungsinstrument gründet möglicherweise darin, dass beide, sowohl Strafe als auch Regeldurchsetzung, voraussetzen, dass eine Regel nicht eingehalten wird. Während Regeldurchsetzung aber in der Gegenwart oder der Zukunft wirkt, bezieht sich die Strafe immer auf die Vergangenheit.

Durchsetzen meint üblicherweise, die Einhaltung einer Regel nötigenfalls auch gegen den Willen des Betroffenen erzwingen zu können. Das kann unter den bekannten Strafen wohl einzig die Todesstrafe bzw. ihr Vollzug. Nur sie kann die Einhaltung des Tötungsverbotes tatsächlich durchsetzen, nötigenfalls auch gegen den Willen des Betroffenen, aber auch sie vermag dies eben nur für die Zukunft und nur beim Hingerichteten. Nicht einmal die lebenslange Freiheitsstrafe leistet dasselbe, denn natürlich ist es auch einem lebenslänglich Eingesperrten möglich, das Tötungsverbot zu missachten. Es sei denn, er würde angekettet, sodass ihm physisch verunmöglicht würde, die Regel zu brechen. Das aber wäre gerade keine Wirkung der Strafe, sondern der Fessel. Allgemeiner gilt:

1. Nur etwas, das nicht ohnehin geschieht, lässt sich erzwingen. Einen Toten kann man nicht töten. Wo das Herz nicht schlägt, lässt sich ein Herzstillstand nicht erzwingen. Solange ein Mensch atmet, kann ich ihn nicht dazu zwingen. Eine Atempflicht lässt sich zwar statuieren, aber nicht durchsetzen. Wo geatmet wird, ist eine Atempflicht unnötig und unmöglich. Wo nicht geatmet wird, bleibt sie nutzlos.

2. Allgemein formuliert: Nur eine Regel, die nicht eingehalten wird, muss (und kann) durchgesetzt werden. Begrifflich ist Durchsetzung nur möglich, wo eine Regel nicht eingehalten wird. Wo die Regel nicht gebrochen wird, ist ihre Durchsetzung nicht nötig, wurde sie aber gebrochen, ist ihre Durchsetzung nicht mehr möglich.

3. Strafe setzt einen Regelbruch voraus. Sie heilt diesen Regel aber nicht und setzt damit die Regel gerade nicht durch. Wurde nämlich eine Regel nicht eingehalten, so kann sie durch die Strafe nicht nachträglich durchgesetzt werden. Das Tötungsverbot kann nicht nachträglich mit einer Strafe durchgesetzt werden. Weil Strafe auf den Regelbruch reagiert und ihn voraussetzt, kann sie weder in der Vergangenheit, noch der Gegenwart etwas erzwingen.

4. Mit «Durchsetzung» kann daher höchstens die Zukunft gemeint sein, 62also nicht die Strafe selbst, sondern deren Androhung. Die Rede von der Strafe als Durchsetzung einer Regel kann also nur das Erzwingen zukünftiger Befolgung der Regel durch die gegenwärtige Androhung von Strafe meinen.

5. Auch das Androhen einer Strafe aber kann die Regel weder in der Vergangenheit, noch in der Gegenwart durchsetzen, kann weder in der Vergangenheit, noch in der Gegenwart Regelbefolgung erzwingen. Eine Regel, die bereits gebrochen wurde, kann nicht nachträglich durchgesetzt werden. Umgekehrt kann eine Regel aber auch nicht durchgesetzt werden, solange sie nicht gebrochen wurde. Was stattfindet, muss nicht, ja es kann begrifflich nicht erzwungen werden. Solange die Regel eingehalten wird, ist es weder nötig noch möglich, ihre Befolgung zu erzwingen. Damit ergibt sich: Nicht nur die Strafe selbst, sondern auch ihre Androhung muss sich notwendig auf die Zukunft beziehen. Das führt unausweichlich zu Paradoxien.

6. Trotz der Androhung von Strafe bleibt es natürlich die Entscheidung des Einzelnen, ob er die Regel befolgen wird oder nicht. Das gerade ist der Witz einer Strafe: Sie reagiert auf eine (falsche oder nicht genehme) Entscheidung. Wo keine Entscheidung möglich ist, da ist auch kein Platz für Strafe. Die Androhung von Strafe setzt daher notwendig voraus, dass die Möglichkeit einer Entscheidung besteht, einer Entscheidung, die eben auch gegen die Regelbefolgung und zugunsten des Regelbruches ausfallen könnte. Wenn beim Schachspiel ein Läufer meinen Turm bedroht, dann zwingt er ihn nicht, sein Feld aufzugeben. Die Drohung des Läufers setzt nicht durch, erzwingt nicht, dass ich meinen Turm ziehen muss.

7. Dies gerade ist Kern des Schuldvorwurfs: Dass bekannt ist, welches Verhalten erwartet wird, und trotz dieses Wissens und der Möglichkeit, diese Erwartung zu erfüllen, ein anderes Verhalten gewählt wird. Wo keine Entscheidung, da keine Schuld.

8. Wird eine Strafe angedroht, so wendet diese Drohung die Regel gerade nicht unabhängig von der Zustimmung des Betroffenen (seiner Entscheidung dafür oder dagegen) an. Seine Regelbefolgung wird also gerade nicht (notfalls auch gegen seinen Willen) erzwungen. Die Androhung einer Strafe setzt also nichts durch. Ein Rabattpreis erzwingt den Kauf der Ware nicht. Und die Androhung keiner je vorstellbaren Strafe kann das Tötungsverbot durchsetzen, also erzwingen, dass es, auch gegen den Willen des Betroffenen, eingehalten wird.

Wo die Regel nicht gebrochen wird, ist ihre Durchsetzung nicht nötig, wurde sie aber gebrochen, ist ihre Durchsetzung nicht mehr möglich.

9. Will man trotzdem von «Durchsetzen» sprechen, dann muss sich das entweder auf das Androhen der Strafe 63in der Gegenwart beziehen (in der es nichts durchzusetzen gibt) oder aber auf die zukünftige Befolgung der Regel (die ebenfalls nicht durchgesetzt werden kann, solange sie nicht gebrochen worden ist, die aber, sobald sie gebrochen worden ist, ganz offenbar nicht durchgesetzt wurde bzw. wird).


10. Soweit die Androhung von Strafe also Durchsetzung sein soll, dann setzt sie nicht die Regel durch, sondern gerade umgekehrt, dass die Durchsetzung der Regel unnötig ist (denn wo kein Regelbruch, da keine Notwendigkeit der Regeldurchsetzung).

11. Wäre daher das Androhen von Strafe tatsächlich Regeldurchsetzung, so strebte es nicht nur danach, sich selbst überflüssig zu machen, es könnte sein Ziel auch gar nie erreichen. Wo nämlich die Androhung von Strafe erreicht, was sie anstrebt (Regelbefolgung), ist Strafe nicht nötig. Wo aber Strafe nicht nötig ist, da kann es ihre Androhung auch nicht sein.

12. Nur dort also, wo Strafe bzw. Androhung von Strafe ihr Ziel (Regelbefolgung) nicht erreicht, kann sie überhaupt notwendig sein. Nur dort also, wo Strafe als Regeldurchsetzung gerade versagt, ist sie überhaupt möglich.

13. Soll eine Regel durch Strafe bzw. ihre Androhung durchgesetzt werden, so ist das zwingend entweder unnötig oder erfolglos.

14. Wird Strafe (bzw. ihre Androhung) als Regeldurchsetzung verstanden, so ergibt sich daher: Wo die Androhung von Strafe notwendig ist, scheitert sie. Ist sie hingegen erfolgreich, so ist sie unnötig. Kurz: Wo Strafe oder ihre Androhung notwendig sind, da sind sie untauglich. Erfolgreich sind sie dagegen nur dort, wo sie unnötig sind.

15. Wenn das «Durchsetzung» heissen soll, so stellt es ein höchst merkwürdiges Verständnis von Durchsetzung dar.

Hin und wieder

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Strafe definieren 2: Strafe als Durchsetzung?, M, ContraLegem 2021/2, S. 61-63
Marcel Alexander Niggli
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