Soft Law und Staatsvertragsrecht

Monique JamettiSoft Law und Staatsvertrags-RechtMContraLegem202132533

Soft Law und Staatsvertragsrecht

Monique Jametti

Vortrag gehalten am Berner Richterinnen- und Richtertagung, 23. August 2021

Einleitung

25Soft law und Staatsvertragsrecht sind Gegensätze. Trotzdem bestehen etliche Berührungspunkte, die gerade aus der Sicht der Gerichte bedenkenswert sind. Auch möchte ich der Frage nachgehen, warum Staatsvertragsrecht gegenüber soft law an Terrain verliert und was die Gründe dafür sind. Ich werde dabei in freier Wahl Impressionen und Erfahrungen weitergeben. Wenn sich aus meinen Überlegungen für Sie in Ihrer Tätigkeit der eine oder andere Impuls ergibt, dann habe ich Ihre Zeit nicht vergeudet.

Definitionen

Bei den Staatsverträgen unterscheidet man traditionellerweise zwischen bi- und multilateralen Instrumenten, je nachdem, ob deren Bestimmungen zwei oder mehrere Staaten bzw. Staatengebilde binden. Unsere rund zweihundert Staatsverträge mit der EU sind teils bilateraler, teils multilateraler Natur. Das hängt jeweils davon ab, ob der betreffende Vertragsgegenstand in die alleinige Kompetenz der EU fällt oder ob es sich um eine sogenannte gemischte Kompetenz zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten handelt.

Staatsverträge und soft law sind insofern Gegensätze, als sich Staatsvertragsrecht als rechtlich verbindliches Instrument des Völkerrechts definiert. Demgegenüber ist soft law eine Bezeichnung für rechtlich nicht verbindliche Übereinkünfte, Absichtserklä­rungen oder Leitlinien, die keiner Genehmigung durch die Legislative unterstehen. Soft law ist demokratiepolitisch nicht legitimiert.

Soft law wird praktisch ausschliesslich als Bezeichnung für Empfehlungen im internationalen Umfeld verwendet. Dabei haben wir auch im nationalen Recht ein nicht unerhebliches Volumen von soft law – ich erwähne etwa die SUVA Richtlinien im Bereich der Unfallverhütung oder die SKOS Richtlinien zur Berechnung der Sozialhilfe. Einige Kantone haben letztere nach einer parlamentarischen Genehmigung ins reguläre Recht überführt: diese sind damit nicht mehr länger soft law, sondern zu echtem Recht mutiert. Die im Baubereich weit verbreiteten SIA Normen wird man häufig nicht als soft law qualifizieren, weil die Parteien diese Normen in ihre vertraglichen Regelungen übernehmen. Über den Umweg der vertraglichen Gestaltung werden so aus den Empfehlungen verbindliche Bestimmungen.

Soft law wird von den Gerichten gerne dann beigezogen, wenn es darum geht, generell-abstrakte Vorschriften zu konkretisieren, wie etwa bei Haftpflichtprozessen oder Verkehrsunfällen. Wo es darum geht, das Mass der zu beachtenden Sorgfalt zu bestimmen, stützt man sich als Richter noch so gerne auf entsprechende Richtlinien. Im internationalen Bereich geht es bei soft law eher selten um Konkretisierung generell-abstrakter Normen. Als Beispiel sei das Europäische Übereinkommen zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe erwähnt. 26Das Abkommen sieht die Schaffung eines Ausschusses vor, der die einzelnen Vertragsstaaten periodisch besucht und deren Haftregime überprüft und anschliessend Empfehlungen erlässt. Anhand dieser Empfehlungen lässt sich eruieren, ob der Strafvollzug unter dem Aspekt der Menschenwürde noch als zumutbar er­scheint oder nicht. Der betreffende Ausschuss basiert also auf einer staatsvertraglichen Grundlage. Allein, seine Empfehlungen sind und bleiben trotz dieser rechtlich verbindlichen Grundlage soft law. Es ist dies eines der prominentesten Beispiele für ein Zusammenwirken von soft law und Staatsvertragsrecht. Das Bundesgericht hält sich regelmässig skrupulös an die Vorgaben des Ausschusses, um eine allfällige Verletzung des Haftvollzugs zu beurteilen; umgekehrt hat es aber die kürzlich erfolgte Lockerung in den Flächenberechnungen der Haftzellen durch die Rechtsprechung des EGMR nicht berücksichtigt (vgl. Urteil 1B_377/2020 vom 2. Dezember 2020).

Anwendung von soft law

Soweit es um Konkretisierungen von generellen Vorschriften geht, bestehen keine grundlegenden Bedenken in der Anwendung von soft law durch die Gerichte – trotz des fundamentalen Unterschieds zwischen soft law, das ein Nichtrecht ist, und dem Recht, zu deren Vollzug die Gerichte verpflichtet sind. Die Urteilsbegründungen verwischen allerdings zumeist diese beiden Sphären und behandeln soft law, wie wenn es verbindliches Recht wäre. Warum? Vier mögliche Erklärungsversuche:

Die Doktrin setzt sich noch zu wenig mit dem Wesen des soft law auseinander. Sie hat vielmehr die Tendenz, soft law unausgesprochen als "Vor-Recht", als Vorbereitungsstadium künftiger Entwicklungen zu sehen, und begrüsst in aller Regel diese Erscheinungsformen als modernes und dynamisches Konstrukt.

In der juristischen Ausbildung wird soft law kaum thematisiert.

Seitens der Promotoren von soft law wird dessen fehlende Rechtsverbindlichkeit sehr gekonnt verwischt; das macht es nicht leicht, soft law überhaupt als solches zu erkennen.

Da die Rechtsprechung soft law als Konkretisierung von hard rules einsetzt und in den Begründungen ihrer Urteile soft law wie gesetztes Recht aufführt, ohne auf den fundamentalen Unterschied in der Geltung hinzuweisen, geht das Bewusstsein darüber verloren, dass es sich um zwei verschiedene Dinge handelt.


Soft law ist demokratiepolitisch nicht legitimiert.

Wie erwähnt kommt soft law sowohl im nationalen wie auch im internationalen Verhältnis vor. Trotzdem fokussieren die nachfolgenden Ausführungen stark auf den internationalen Bereich; einmal, weil dort das Ausmass an soft law enorm zugenommen hat und dann auch, weil sich die Verschiebungen staatspolitisch im internationalen Verhältnis viel drastischer auswirken. Die mit soft law verbundenen Dysfunktionalitäten – vorab das systematische Ausblenden des Gesetzgebers – gelten unabhängig davon, ob dieses soft law national oder inter­national geschaffen wird, aber im nationalen Verhältnis wird die fehlende demokratische Legitimation faktisch dadurch abgemildert, dass zwischen den Urhebern von soft law in den Verbänden einerseits und der Legislative andrerseits zahllose Kontakte und Interferenzen bestehen. Mit Blick auf die Schweiz kommt natürlich auch die beschränkte Grösse unseres Landes und die enge Verflechtung der Akteure zum Tragen. Man kennt sich, tauscht sich 27untereinander aus und begegnet sich immer wieder. Das sieht im internationalen Kontext völlig anders aus.

Wie entstehen Staatsverträge?

Wer macht Staatsverträge, wer initiiert sie?

Aus einer rein innerschweizerischen Perspektive ist die Antwort bezüglich bilateraler Staatsverträge klar und einfach: Der Startschuss kommt regelmässig von der Exekutive des einen oder anderen Staates. So hat die Schweiz etwa das alte bilaterale Gerichtsstandsabkommen mit Frankreich von 1869 modernisieren wollen, was unser Nachbarland wohlwollend zur Kenntnis genommen hat. Leider hat sich aber Frankreich in der Folge zu lange Zeit gelassen: Als die französische Verwaltung endlich zu Verhandlungen bereit war, mussten wir unsere Nachbarn darauf aufmerksam machen, dass sie ihre Kompetenz zum Abschluss solcher Abkommen inzwischen an die EU abgetreten hatten. Einigen sich die Vertreter der beiden Staaten auf Verhandlungen, so bereiten die beiden Verwal­tungen das Ganze vor und nach Abschluss der Arbeiten wird der Staats­vertrag den Parlamenten der beiden Staaten zur Genehmigung unterbreitet.

Bezüglich multilateraler Verträge ist nicht so klar, wer die Initiative für den Abschluss eines neuen verbindlichen Instrumentes ergreifen kann. In der Regel braucht es mehrere Staaten, die sich innerhalb einer bestimmten internationalen Organisation gemeinsam für ein Anliegen einsetzen. Regelmässig braucht es die Unterstützung des Sekretariates der jeweiligen IGO. Ist ein Thema gesetzt, so wird der Text im Rahmen der betreffenden IGO vorbereitet und verabschiedet.

Die Übernahme von Staatsverträgen erfolgt auch hier über die Genehmigung durch das Parlament.

Sowohl bi- als auch multilaterale Staatsverträge können nach der Genehmigung durch das Parlament dem fakultativen oder obligatorischen Referendum unterstehen. Dabei wird internationales Recht nicht gleich behandelt wie nationales Recht: Was intern zwingend referendumspflichtig ist, braucht es international nicht zu sein. Es würde zu weit führen, hier auf die detaillierte Regelung einzugehen. Im Laufe der letzten Jahrzehnte hat es eine Angleichung gegeben, aber Staatsverträge geniessen gegenüber nationalem Recht referendumsmässig immer noch eine Vorzugsbehandlung. Vor kurzem haben die eidgenössischen Räte eine Motion Caroni (15.3557) versenkt, die die Referendumspflicht für Staatsverträge hätte ausweiten sollen. Neu sollte ein obligatorisches Referendum für völkerrechtliche Verträge mit verfassungsmässigem Charakter eingeführt werden. Die Motion wurde in beiden Räten verworfen, obwohl der Bundesrat ihre Annahme empfohlen hatte – das kommt selten genug vor. Gegner waren zum einen jene, die die Privilegierung von internationalem Recht beibehalten wollten, dann aber auch jene, die verhindern wollten, dass mit dem Unterstellungsbeschluss quasi automatisch Staatsvertragsrecht auf verfassungsmässiger Ebene geschaffen würde.

Wie entsteht soft law?

Wer initiiert soft law? Auch hier ist die Antwort aus einer innerschweizerischen Perspektive klar und einfach: die jeweiligen Berufs- und Interessenverbände – und niemals die Legislative.

Im internationalen Verhältnis sind es demgegenüber dieselben IGO, die Staatsverträge vorbereiten, die auch soft law erlassen – also etwa die UNO und alle ihre Unterorganisationen, der Europarat mit all seinen verschiedenen Gremien, UNIDROIT und die Haager Konferenz für internationales Privatrecht und weitere Organisationen.

Bei soft law kann man nicht von einer eigentlichen Übernahme sprechen, wohl aber von Genehmigung. Sie erfolgt nicht immer gleich: Meist beschränkt sich die Verabschiedung auf die Zustimmung der Staatenvertreter in den 28jeweiligen internationalen Organisationen – als Beispiel seien die UNIDROIT Principles for international commercial contracts erwähnt. Manchmal wird wie beim UNO Migrationspakt auch auf die Genehmigung der Regierungen abgestellt.

Eine bemerkenswerte Premiere in der Behandlung von soft law bietet der erwähnte Migrationspakt (Global compact for Safe, Orderly and Regular Migration), über welchen die eidgenössischen Räte über den Weg von Motionen (je eine der staatspolitischen Kommissionen sowie eine Motion der aussenpolitischen Kommission des SR) eine parlamentarische Debatte erzwungen haben. Der Bundesrat hatte die Motionen abgelehnt unter dem Hinweis,

Obwohl soft law nichts anderes ist als eine unverbindliche Empfehlung, wird es trotzdem häufig so behandelt, wie wenn es geltendes Recht wäre.

dass es aus staatsrechtlichen Überlegungen nicht Sache des Parlaments sein könne, über die Genehmigung des nicht rechtsverbindlichen Migrationspakts zu befinden. Das Parlament hat mit Art. 24 Abs. 1 des Parlamentsgesetzes gekontert, wonach die Bundesversammlung bei der Willensbildung über wichtige aussenpolitische Grundsatzfragen und Entscheide mitwirkt. Nun muss also der Bundesrat den eidgenössischen Räten die Genehmigung des Migrationspakts in Form eines einfachen Bundesbeschlusses unterbreiten. Als Erstrat ist der Ständerat anlässlich der Junisession 2021 der einstimmigen Empfehlung seiner aussenpolitischen Kommission gefolgt, das Geschäft zu sistieren, bis der bestellte Bericht zum soft law vorliegt. Der Nationalrat wird sich in der Herbstsession 2021 mit dem Geschäft befassen.

Zur Interpretation von Staatsvertragsrecht

Staatsverträge sauber auszulegen ist eine besondere Mühsal. Mit unserer eigenen Gesetzessprache sind wir vertraut und wissen, wie wir damit umzugehen haben. Internationale Normen hingegen sind vielfach Ausdruck eines zähen Ringens nicht nur unter Vertretern der verschiedensten Interessengruppierungen, sondern auch unter Vertretern der unterschiedlichsten Rechtssysteme und deshalb sind sie entsprechend schwierig zu deuten. Gelegentlich reflektieren sie nur eine Verpflichtung der Vertragsstaaten, bestimmte Ansprüche legislatorisch umzusetzen wie etwa das Pariser Klimaabkommen – dann handelt es sich um non self executing Bestimmungen, für deren Konkretisierung der nationale Gesetzgeber sorgen muss. Manchmal sind sie genügend bestimmt gefasst, sodass sich daraus direkt Rechtspflichten der Vertragsstaaten ergeben – dann haben wir es mit self executing Bestimmungen zu tun.

Staatsverträge sind selten per se durchwegs self executing oder non self executing; in der Regel sind ihre Bestimmungen eine Mischung von beiden. Daneben gibt es aber noch viele nette Zwischenformen, die das Leben und das juristische Wirken interessant und dessen Ergebnis unberechenbar machen. Spricht man einer Bestimmung self executing-Charakter zu, so wird man immer noch prüfen müssen, wie sie auszulegen ist. In der Regel wird dies "konventionsautonom" zu erfolgen haben. Zu beachten bleibt, dass es gelegentlich ausgesprochen schwierig sein kann zu bestimmen, ob ein Staatsvertrag tatsächlich einen eigenständigen 29neuen Rechtsanspruch schafft. Als Beispiel sei die Europäische Charta über die lokale Selbstverwaltung angeführt, deren Ziel es ist, die Stellung der Gemeinden in einem Staat zu fördern und zu stärken. Die Ver­tragsstaaten sind gehalten, eine bestimmte Mindestzahl an Verpflichtungen aus dieser Charta zu übernehmen; die genaue Ausgestaltung wird dann aber jeweils dem nationalen Recht überlassen. Wie interpretiert man eine derartige Bestimmung? Handelt es sich dabei um eine Vorschrift mit self executing Charakter?

Die Interpretation der staatsvertraglichen Bestimmungen erfolgt autoritativ allein durch die Gerichte. Ob es um eine self executing Bestimmung geht oder nicht, wird weder von den IGO, noch von Regierungen oder Parlamenten, sondern letztlich allein von den Gerichten entschieden. Ich verweise hier auf zwei markante Beispiele:

In BGE 145 I 308 ging es um die Anwendung des Übereinkommens zur Bekämpfung des Menschenhandels (SR 0.311.543), wo das Bundesgericht auf der Grundlage von Art. 14 Abs. 1 lit. b des Übereinkommens einen direkten Rechtsanspruch auf eine Kurzaufenthaltsbewilligung erkannt hat, obwohl die Botschaft des Bundesrates festgehalten hat­te, das schweizerische Recht entspreche mit Ausnahme des Zeugenschutzes bereits den Vorgaben der Konvention. Dass der Bundesrat im vorliegenden Bereich keinen Rechtsanspruch über das geltende Recht hinaus sah und dass das Parlament dieser Haltung gefolgt war, hat das Bundesgericht nicht daran gehindert, anders zu entscheiden und gestützt auf die staatsvertragliche Bestimmung einen direkten Rechtsanspruch zu schaffen.

In BGE 142 I 216 hatte das Bundesgericht entschieden, die Volksabstimmung über die Tessiner Initiative zur Fusion von mehreren Gemeinden genüge nicht zur Einhaltung von Art. 5 der Europäischen Charta über die kommunale Selbstverwaltung, weil die Stimmbürger der betroffenen Gemeinden nicht vorab bereits in einer Abstimmung konsultiert worden seien. Artikel 5 der Charta lautet wie folgt: Bei jeder Änderung kommunaler Gebietsgrenzen sind die betroffenen Gebietskörperschaften vorher anzuhören, gegebenenfalls in Form einer Volksabstimmung, sofern dies gesetzlich zulässig ist. Das Recht des Kantons Tessin sieht natürlich eine Volksabstimmung über die geplante Gemeindefusion vor. Es kennt allerdings keine Bestimmung, wonach vorgängig in jeder einzelnen betroffenen Gemeinde separat noch eine Gemeindeabstimmung erfolgen müsste. Trotz des letzten Satzteils von Artikel 5 ("sofern dies gesetzlich zulässig ist"), mit welchem die Charta auf das interne Recht des jeweiligen Vertragsstaates verweist, hat das Bundesgericht in Artikel 5 eine positive Verpflichtung erkannt, eine solche Vorabkonsultation per vorgängiger Abstimmung vorsehen zu müssen. Das Sekretariat des Europarates hat dieses bundesgerichtliche Urteil mit grösster Verwunderung registriert.

Schweizerische Gerichte sind gegenüber Staatsverträgen sehr texttreu. Das ist an sich lobenswert. Gelegentlich wäre es jedoch wünschenswert, dass unsere Gerichte etwas zurückhaltender wären, insbesondere wenn es darum geht, neue Verpflichtungen zu schaffen. Hier sollte man sich vergewissern, dass die Väter und Mütter der fraglichen Konvention solche Verpflichtungen auch tatsächlich gewollt haben.

Zur Interpretation von soft law

Obwohl soft law nichts anderes ist als eine unverbindliche Empfehlung, wird es trotzdem häufig so behandelt, wie wenn es geltendes Recht wäre. Die IGO tun alles, um ihr soft law als ernstzunehmende und verbindliche Inspirationsquelle erscheinen zu lassen; sie veröffentlichen Vorgaben, Anweisungen und Empfehlungen, wie man das soft law anzuwenden hat.

30Soft law muss vorab als solches erkannt werden. Das tönt einfacher, als es gelegentlich ist. Ich habe schon erwähnt, dass der empfehlende Charakter von soft law oft kaschiert wird. Dazu kommt, dass alle internationalen Organisationen in den letzten Jahren dazu übergegangen sind, neben Staatsverträgen auch soft law zu erlassen. Die UNO macht das seit Jahrzehnten schon so. Inzwischen ist aber sogar die alt ehrwürdige Haager Konferenz für internationales Privatrecht dem Modetrend erlegen und hat sich nach 100 Jahren dazu herabgelassen, soft law zu produzieren. Der Absender eines Textes allein ist daher kein verlässlicher Garant mehr, der anzeigt, ob es sich um soft law handelt oder um ein rechtsverbindliches Instrument. Schliesslich verwenden IGO gelegentlich auch "Genehmigungsverfahren" in Form einer feierlichen Unterzeichnung durch die Regierungsvertreter an einer internationalen Konferenz wie beim Migrationspakt, um ihrem soft law seitens der Staaten Bekanntheit, Wirkung und Strahlkraft und damit auch eine vermeintliche Legitimation zu geben.

Nichts spricht dagegen, ein Urteil auch aufgrund von konkretisierendem soft law zu fällen, wenn dieses eine nachvollziehbare und sachlich überzeugende Antwort liefert. Dann sollte die Urteilsbegründung aus Transparenzgründen aber auch klar machen, dass es sich um soft law und nicht um gesetztes Recht handelt. Ist das Gericht hingegen der Auffassung, das besagte soft law biete keine adäquate Lösung für das anstehende Rechtsproblem, dann soll das Gericht seiner Überzeugung folgen, ohne sich dafür zu entschuldigen oder zu rechtfertigen. Eine besondere Begründung, weshalb das soft law im konkreten Fall nicht zur Anwendung gelangt, ist nicht notwendig. Es würde dem Charakter des soft law widersprechen.

Exponentielle Zunahme von soft law

Im internationalen Umfeld hat das soft law ein exponentielles Wachstum erfahren. Dafür dürften 4 Hauptgründe verantwortlich sein:

       Zeitfaktor

       Verfahren

       Flexibilität

       Komplexität


Zeitfaktor: Im internationalen Umfeld hard law zu erlassen braucht jahrelange Vorbereitungen und einen langen Atem. Als Beispiel sei das Wiener Kaufrechtsübereinkommen der UNO erwähnt. Diesem Staatsvertrag sind 30-jährige Vorarbeiten von UNIDROIT und die Verabschiedung der Haager Kaufgesetze von 1964 vorangegangen. Die Konvention datiert von 1980; bis sie dann international in Kraft getreten ist, sind nochmals 8 Jahre vergangen. Solche Zeiträume erscheinen heutzutage undenkbar. Demgegenüber bietet sich soft law als einfache und smarte Lö­sung an: Man kann einen Text rasch verabschieden. Durch die allgemeine Beschleunigung, die wir in allen Bereichen des Lebens erfahren, haben wir das Gefühl, dass uns die Zeit zum Erlass einer seriösen Problemlösung fehlt. Das ist fatal, dürfte aber wesentlich zur Verbreitung von soft law beigetragen haben.


Verfahren: Man kann in internationalen Gremien allgemein einen deut­lichen Trend zu Konsensverfahren beobachten. Abstimmungen werden je länger je öfter vermieden; sie gelten als konfrontativ und stören das Ambiente. Das ist eine Folge des soft law und fördert dieses indirekt, weil hier auf eine proaktive Genehmigung verzichtet werden kann und der Annahmemodus dadurch eine Umkehr erfährt: Es geht nicht mehr darum, dass die Staatenvertreter einen Text per Abstimmung genehmigen, sondern der nörgelnde Opponent muss seinerseits aktiv werden, wenn er mit dem vom Sekretariat vorgeschlagenen soft 31law nicht einverstanden ist. Dem Einsprechenden wird sodann regelmässig entgegengehalten, dass es sich ja nur um eine Empfehlung handle und dass diese nicht verbindlich sei; einzelne Abweichler – vor allem wenn sie kleinere Staaten repräsentieren – wird man sodann ohne weiteres übergehen können. Auf diese Weise werden Positionen verabschiedet, die den Lackmustest einer Abstimmung nie passieren würden. Als Beispiel sei das Übereinkommen des Europarates über internationale Adoptionen erwähnt.


Durch die allgemeine Beschleunigung, die wir in allen Bereichen des Lebens erfahren, haben wir das Gefühl, dass uns die Zeit zum Erlass einer seriösen Problemlösung fehlt. Das ist fatal, dürfte aber wesentlich zur Verbreitung von soft law beigetragen haben.

Der Staatsvertrag schliesst Adoptionen durch gleichgeschlechtliche Paare aus, weil sich diverse Delegierte energisch dagegen zur Wehr gesetzt hatten. Kaum war das Übereinkom­men verabschiedet – die Tinte der Paraphierung war noch nicht trocken – da hat das Ministerkomitee eine gegenteilige Empfehlung zur Adoption durch gleichgeschlechtliche Paare erlassen – eingepackt und verbrämt als Massnahme zur Bekämpfung von Diskriminierung aufgrund von se­xueller Orientierung oder Geschlechtsidentität. Von den Ministern und Botschafter jener Staaten, deren Vertreter die Adoption durch homosexuelle Paare in den Verhandlungen zum Übereinkommenstext noch so heroisch bekämpft hatten, hörte man keinerlei Opposition.

Flexibilität: Empfehlungen lassen sich relativ zwanglos und einfach erneuern, währenddem ein erfolgreiches Überein­kommen nicht modernisierbar erscheint. Als Beispiel für faktisch in Sklerose erstarrte Konventionen seien das New Yorker Übereinkommen über die Anerkennung von Schiedssprüchen und das Haager Kindesent­führungsübereinkommen erwähnt. Die New Yorker Konvention ist in ihrem Wirkungsfeld zwar effizient, gleichzeitig aber in vielen Belangen lückenhaft. Lückenhaft ist auch das Haager Kindesentführungsübereinkommen, aber im Gegensatz zur New Yorker Konvention ist es noch alles andere als effizient. Beide Konventionen sind von einer grossen Zahl von Staaten ratifiziert worden; beide scheinen nicht erneuerungsfähig. Erfahrungsgemäss verhindert eine hohe Zahl von ratifizieren­den Staaten eine wünschbare Erneuerung oder Ergänzung. Soft law ist hier wesentlich flexibler und bietet die Möglichkeit einer stetigen Anpassung an sich verändernde Umstände.

Darüberhinaus erlaubt soft law aber auch eine Flexibilisierung mit Bezug auf seine Wirksamkeit. Bei einer Konvention liegt die Umsetzung des Textes allein in den Händen der Gerichte. Was diese aus dem Text machen, entzieht sich der Kontrolle der Regierungen und internationalen Organisationen. Anders beim soft law: Die IGO erhalten sich die Deutungshoheit über "ihr" soft law und können dieses dann auch gezielt als Druckmittel 32verwenden. Und sie tun das auch. So wurden etwa im GAFI (Groupe d'action financière) die Inhaberaktien wegen mangelnder Transparenz aktiv bekämpft. Ausser der Schweiz, Luxemburg und Belgien kannte kein weiterer GAFI-Staat Inhaberaktien. Daher konnte man sie ohne weiteres opfern. Tatsächlich lassen Inhaberaktien keinen Rückschluss auf den wirtschaftlich Berechtigten zu, genauso wenig übrigens wie Trusts nach angelsächsischem Recht. Gegen Inhaberaktien hat das GAFI einen veritablen Kreuzzug geführt. Demgegenüber werden Trusts niemals Gegenstand einer derartigen Kampagne werden. Die Quintessenz ist offensichtlich: Soft law bindet faktisch die kleinen Staaten und lässt die Grossen unbehelligt. Wir haben inzwischen die Inhaberaktien aufgegeben. Vielleicht wird die Schweiz stattdessen einen Trust schweizerischen Zuschnitts einführen: der Bundesrat wird im Oktober 2021 einen entsprechenden Gesetzesentwurf in die Vernehmlassung geben.


Komplexität: Gelegentlich sind die Problemstellungen derart kompliziert geworden, dass deren Regelung über eine multilaterale Rechtsvereinheitlichung zu schwierig erscheint. Das lässt sich im Bereich des Finanzmarktrechts sehr schön erkennen. Das Genfer Übereinkom­men über indirekt gehaltene Wertrechte von 2009 beispielsweise hat als Staatsver­trag Schiffbruch erlitten, weil ausser ausgewiesenen Finanzfachleuten und den Personen, die bei der Ausarbeitung der Konvention dabei waren, niemand dessen Mechanismus versteht. Basel III hingegen als soft law funktioniert bestens, weil es von Fachleuten für Fachleute erlassen worden ist – ohne Regierungen, ohne Parlamente und fernab jeglicher gerichtlicher Kontrollen.

Folgerungen

Welche Folgerungen sind zu ziehen? Staatsvertragsrecht braucht einen enorm langen Vorlauf und ist in der Handhabung oft alles andere als einfach. Mit seinen Anforderungen und seinem Zeitbedarf widerspricht es dem Zeitgeist, der auf rasche Lösungen ausgerichtet ist. Die Interpretation von Staatsverträgen liegt bei den Gerichten. Aber der Einfluss der Justiz nimmt laufend ab, da Staatsvertragsrecht immer öfter von soft law verdrängt wird. Soft law ist fashionable, Staatsverträge sind es nicht mehr. Soft law bietet einen attraktiven raschen Lösungsweg in einer zunehmend komplexen Welt. Und was nicht zu unterschätzen ist: Im Gegensatz zu Staatsverträgen gibt soft law den Sekretariaten der diversen internationalen Organisationen einen maximalen Einfluss, indem sie die Kontrolle nicht an die Gerichte abgeben müssen, sondern sie über sämtliche Schritte behalten: vom Agendasetting, über den Inhalt bis zur Verabschiedung, aber noch darüberhinaus auch bei dessen Anwendung. Und dies geschieht auf Kosten der

Wir sollten uns immer bewusst sein, dass dem soft law das Gütesiegel der Gesetzgebung und damit auch die demokratische Legitimation abgeht.

Gestaltungsmöglichkeiten der einzelnen Staaten und ihrer Organe. Das bedeutet im Ergebnis eine zusätzliche Verschiebung im Staatengefüge: Mit soft law wird nicht nur der reguläre Gesetzgeber übergangen, sondern auch die Judikative wird ausgehebelt: Es sind nicht mehr 33die Ge­richte, die sagen, was Recht ist, sondern die Sekretariate der IGO's dekretieren, was man als richtig zu betrachten hat – und das erst noch auf der Grundlage von soft law, das kein Recht ist. Soft law wird als politisches Druckmittel verwendet, um gewisse Vorstellungen einer als gerecht empfundenen Lösung auch ohne rechtliche Verbindlichkeit durchsetzen zu können. Anschauliches Beispiel bieten die Bestrebungen der G7, zusammen mit der OECD eine neue Unternehmensbesteuerung zu schaffen. Weder Gerichte, noch Parlamente oder Regierungen eines kleineren Staates werden sich wirksam direkt dagegen wenden können.

Ausblick

   Ich wünsche mir, dass sich die Gerichte ihrer Bedeutung bei der Interpretation von Staatsverträgen bewusst sind und dass sie ihren Spielraum nutzen.

   Gleichzeitig wünsche ich mir und hoffe, dass die Gerichte nicht zu expansiv denken, wenn es um die Anerkennung neuer Rechtspflichten geht – soweit dies von den Urhebern der jeweiligen Konvention nicht ausdrücklich so angelegt worden ist. Es scheint auch nicht vordringlich, die Schweiz als Musterschüler des Universums zu positionieren.

   Ferner wünsche ich mir, dass das Parlament das Staatsvertragsrecht mit derselben Verve und demselben Engagement debattiert wie interne Gesetzesvorlagen, auch wenn sein Spielraum auf die Frage der Ratifizierung und allfälliger Vorbehalte oder Erklärungen beschränkt ist.

   Dann wünsche ich mir, dass die Lehre sich intensiver mit der Erscheinung des soft law beschäftigt und die Juristenwelt von morgen entsprechend vorbereitet.

   Generell wünsche ich mir einen sorgfältigeren Umgang mit soft law. Dieses ist im Vormarsch und wird weiter zunehmen. Das werden wir nicht verhindern und auch nicht beeinflussen können. Aber wir können unsere Haltung gegenüber soft law steuern. Wir sollten uns immer bewusst sein, dass ihm das Gütesiegel der Gesetzgebung und damit auch die demokratische Legitimation abgeht.

   In die­sem Sinne wünsche ich mir vor allem seitens der politischen Akteu­re, aber auch für uns alle mehr Gelassenheit gegenüber Begehren und Erwartungen, die auf soft law basieren.

Download
Soft Law und Staatsvertragsrecht
Monique Jametti, ContraLegem 2021/3, 25-33
CL21-3-2-MSoftlaw.pdf
Adobe Acrobat Dokument 1.1 MB

Kommentar schreiben

Kommentare: 0

Chefredaktion

Marcel Alexander Niggli

 

Redaktion

Dimitrios Karathanassis
Louis Frédéric Muskens

Unser Video-Kanal auf YouTube