Strafe definieren 3: Strafe als Freiheitsstrafe

M. A. NiggliStrafe definieren 3: Strafe = Freiheitsentzug?MContraLegem202134245

Strafe definieren 3: Strafe = Freiheitsentzug?

M. A. Niggli

Ein Kommentar zu BGE 142 II 243 & EGMR, Müller-Hartburg c. Österreich

Einführung

42Wir haben uns hier bereits einmal mit dem höchst problematischen Entscheid des EGMR Müller-Hartburg c. Österreich (Urteil vom 19.2.2013, Nr. 47195/06 ) materiell auseinandergesetzt (vgl. M. A. Niggli, Strafrecht richtet sich an die Allgemeinheit? Schrulliges bundesgerichtliches Verständnis von Strafrecht [BGE 142 II 243], ContraLegem 2018/2, 44 f.) , allerdings ohne den Entscheid ausdrücklich zu nennen, in der Meinung, das Bundesgericht sei fähig, den Unterschied zwischen einer «Strafe» und einer «strafrechtlichen Anklage» zu erkennen (vgl. M. A. Niggli, Strafrecht & strafrechtliche Anklage, ContraLegem 2018/2, 49 ff. ): Bestimmt sich nach dem materiell-rechtlichen Begriff der Strafe, welchen Regeln Fragen nach Täterschaft & Teilnahme, Versuch & Verjährung etc. unterstehen (was ja alles im Allgemeinen Teil des StGB geregelt wird und was von Art. 333 StGB auch auf Strafen aller Ebenen für massgeblich erklärt wird), entscheidet der (prozessuale) Begriff der «strafrechtlichen Anklage» darüber, welchen Vorgaben ein entsprechendes Verfahren untersteht (öffentliches Verfahren, unabhängiges Gericht etc.; vgl. auch M. A. Niggli, Strafe definieren 1: Was nicht funktioniert, ContraLegem 2021/2, 53 ff. ).

Dass dem Bundesgericht bekannt und bewusst ist, dass die beiden Begriffe nicht deckungsgleich sind und dass nach dem Begriff der strafrechtlichen Anklage nicht entscheiden lässt, ob eine Strafe vorliegt, hatten wir für selbstverständlich angenommen. Noch hat uns ja niemand erklären können, wie aus der EMRK z.B. irgendeine (irgendeine!) Regelung von Täterschaft & Teilnahme oder Versuch & Vollendung abzuleiten wäre. Unbedachterweise hatten wir weiter angenommen, dass ein Gericht (insbesondere das höchste Gericht im Lande) für seine Entscheidungen Gründe hätte, die es auch zu nennen vermöchte. Indes, beide (zugegeben vielleicht naiven) Erwartungen (Unterschied Strafe/strafrechtliche Anklage einerseits, nachvollziehbare Begründungen andererseits) wurden bitterlich enttäuscht und wir wurden schmerzlich daran erinnert, dass Zitieren einfacher ist als Denken. Auf den vorgenannten Beitrag zu BGE 142 II 243 hin hat uns die Gerichtsschreiberin, die den fraglichen Entscheid verfasst hat, kontaktiert. Aber nicht etwa, um uns Gründe oder Argumente für die Entscheidung mitzuteilen, die sich nicht oder nur versteckt darin finden, sondern – ja, tatsächlich – einzig, um uns auf besagten Entscheid des EGMR (Müller-Hartburg c. Österreich) hinzuweisen, ganz so, als wäre der Verweis auf einen Entscheid eines anderen Gerichtes zu einer anderen Frage (strafrechtliche Anklage, nicht Strafe) eine gültige Begründung der eigenen Position. O tempora, o mores!

Der Entscheid

Auch der EGMR scheint den Unterschied von Strafe und strafrechtlicher Anklage nicht zu respektieren (wörtlich: «44. Regarding the nature of the offence, the Court observes that section 1 (1) of the Disciplinary Act is not addressed to the general public but to the members of a professional group possessing a special status, namely practising lawyers and trainee lawyers (see Brown v. 43the United Kingdom (dec.), no. 38644/97, 24 November 1998 , concerning disciplinary proceedings against a solicitor).») und eigentlich wäre dazu nichts weiter zu sagen, wie bereits anlässlich BGE 142 II 243 ausgeführt gilt dasselbe natürlich für jedes Sonderdelikt und wir wollen annehmen, dass der EGMR nicht ernsthaft davon ausgeht, dass Sonderdelikte keine Straftaten sind und die Strafen, welche sie nach sich ziehen, auch in den Augen des EGMR Strafen sind. Aber derjenige, dessen Entscheidungen nicht angefochten werden können, hat dieselbe funktionale Stellung wie Gott (vgl. M. A. Niggli, Souveränität & Instanzenzug , weshalb er eben keine Fehler machen kann. Es erscheint daher natürlich, dass er seine eigene Bedeutung und Macht überschätzt. Nachdem aber gerade dieser EGMR-Entscheid offenbar als ultimative Begründung schweizerischer Rechtsprechung zum Begriff der Strafe herangezogen wird, soll hier ein anderes Argument angesprochen werden, das sich ebenfalls darin findet, um den Strafcharakter eines Berufsverbotes zu verneinen; ein Argument das in seinem Irrwitz die Behauptung, Strafe könne nur sein, was sich unterschiedslos an alle richte, vielleicht noch übertrifft.

Der Gerichtshof behauptet nämlich tatsächlich, dass Strafe nur sein könne, was zu einer Freiheitsstrafe führen könne. Wörtlich im Entscheid Müller-Hartburg c. Österreich:

«47: With the exception of the fine, these sanctions are typical disciplinary sanctions (see, mutatis mutandis, Moullet, cited above). As regards the fine, the Court notes that in contrast to fines in criminal proceedings fines under the Disciplinary Act do not attract a prison term in the event of default, as the disciplinary authorities have no power to impose deprivation of liberty. Although the size of the potential fine is such that it must be regarded as having a punitive effect, the severity of this sanction in itself does not bring the charges into the criminal sphere (see Brown, cited above).»

Was für eine Freude, solchen Unsinn lesen zu dürfen, und dies zudem von einem verehrungswürdigen Gericht,

Aber derjenige, dessen Entscheidungen nicht angefochten werden können, hat dieselbe funktionale Stellung wie Gott.

das ganz offensichtlich nicht bei Sinnen ist und das auch glorios zeigt. Wenn das Argument tatsächlich zuträfe, dann müsste ja ein Grossteil der Rechtsprechung des EGMR selbst zum Begriff der Strafe (Engel-Rechtsprechung, Jussila c. Finnland, Grande Stevens c. Italien) falsch sein. Die Diskussionen, die in Grande Stevens c. Italien (Urteil vom 4.3.2014, Nr. 18640/10) geführt werden, wären ganz überflüssig gewesen, geprüft werden müssen hätte ausschliesslich, ob die fraglichen Geldstrafen in Freiheitsstrafen umgewandelt werden konnten.

Die wahrscheinliche Herkunft des Entscheides

Das Argument, wonach Strafe nur Freiheitsentzug sei und was darin umgewandelt werden könne, dürfte – auch das wäre nachzuprüfen – primär aus dem Kontext des Kartellrechts stammen und dem Bestreben, die Kartellbussen der EU nicht als Strafen zu qualifizieren, weil der EU ja da überhaupt keine Strafkompetenz zukommt, weshalb sie keine Kartellbussen ausfällen dürfte, wenn es Strafen wären. Das Argument ist mithin nichts anderes als der Versuch, über das Kriterium der «Körperlichkeit» Unternehmen von der «Strafbarkeit» auszunehmen und allen Strafen, die ihnen 44auferlegt werden, den Strafcharakter abzusprechen (ohne dass man diese Ziele zugibt).

Will man aber tatsächlich das merkwürdige Kriterium der Körperlichkeit mit dem Begriff der Strafe verknüpfen, und als Strafe nur staatliche Übelszufügung definieren, die einem körperlichen Subjekt zugefügt werden können, müsste man die Körperlichkeit (und nicht den Freiheitsentzug) als Kriterium ausdrücklich nennen, ansonsten man unmittelbar in die Hölle der Inkonsistenz fährt.

Am Beispiel: Sind Körperstrafen oder Todesstrafe überhaupt Strafen? Nach dem EGMR nur dann, wenn sie in Freiheitsstrafen umgewandelt werden können. Und ob sie das können, bestimmt sich nach dem nationalen Recht,

Disziplinarstrafen sollen keine Strafen sein? Und es hilft auch nicht weiter, wenn man das umformuliert: Disziplinarsanktionen sollen keine Strafen sein? Aber was wären sie denn sonst?

und selbstverständlich nicht nach der EMRK (wie sollte es auch, dafür bestehen ja gar keine Kriterien). Wollte man also dem Kriterium der Körperlichkeit folgen, so könnten die Mitgliedstaaten der EU wieder autonom bestimmen, was eine Strafe sei und was nicht.

Weil das vorstehende Beispiel vielleicht die Sensiblen erschreckt haben mag, die bereits bei der Erwähnung von Todes- und Körperstrafen zusammenzucken, die ja von der EMRK für unzulässig erklärt und ausgeschlossen werden, hier noch ein einfacheres Beispiel aus der Schweiz heute:

Noch ein Beispiel

Im aktuell geltenden Bundesgesetz über das Verwaltungsstrafrecht (VStrR, SR 313.0) werden in Art. 3 Ordnungswidrigkeiten definiert als Widerhandlungen, die vom einzelnen Verwaltungsgesetz so bezeichnet werden oder die mit Ordnungsbusse bedroht werden. Für solche Ordnungswidrigkeiten bestimmt Art. 10 Abs. 1 VStrR ausdrücklich, dass – anders als für andere Bussen des Verwaltungsstrafrechtes – eine Umwandlung in Haft (heute: Freiheitsstrafe) nicht möglich ist. Bedeutet das nun, dass Ordnungswidrigkeiten keine Strafen sind, obwohl ein Definitionskriterium die angedrohte Sanktion einer Ordnungsbusse ist? Wollte man das tatsächlich vertreten, so ergäben sich zwar keine unmittelbaren dogmatischen Probleme mit Anstiftung und Gehilfenschaft, weil sie in Art. 5 VStrR bei Ordnungswidrigkeiten explizit von der Strafbarkeit ausgeschlossen werden. Welchen Regeln aber sollte die Bestimmung z.B. von Täterschaft, Versuch oder Verjährung folgen? Der Allgemeine Teil des StGB wäre ja, den Vorstellungen des EGMR nicht anwendbar, weil es sich nicht um «Strafen» handelt. Will man tatsächlich – wie etwa im Kartellrecht – alles ein wenig selbst erfinden unter dem Obertitel «analoge Geltung»? Das heisst ja nichts anderes, als die Vorgaben des Bestimmtheitsgebotes unmittelbar und direkt abzulehnen. Es gäbe dann Strafen, für welche die Vorgaben des AT StGB gelten und solche, für die das nicht zutrifft, für die aber auch keine anderen Regeln bestehen.

Leicht erkennbar ist, dass das Kriterium der Freiheitsstrafe bzw. Umwandlungsmöglichkeit in sie den Begriff der Strafe beliebig macht: Bestimmt ein Gesetz, dass eine ausgesprochene Todes- oder Körperstrafe nicht in Freiheitsstrafe 45umgewandelt werden darf oder dass für bestimmtes Verhalten keine andere Strafe möglich ist als Todes- oder Körperstrafe, fallen selbst diese schärfsten Eingriff in die Rechtssphäre des Bestraften als Strafen ausser Betracht. Kann das wirklich gemeint sein?

Dass sich die beiden Argumente gerade im gleichen Entscheid finden, bezeichnet möglicherweise eine der dunkelsten Stunden des EGMR und eigentlich gehört der Entscheid auf den Index der Entscheide, die zu vermeiden sind und auf die möglichst nicht abzustellen ist. Die ganze Hilflosigkeit wird offenbar bereits in der Sprache: Disziplinarstrafen sollen keine Strafen sein? Und es hilft auch nicht weiter, wenn man das umformuliert: Disziplinarsanktionen sollen keine Strafen sein? Aber was wären sie denn sonst?

Symptomatisch erscheint, dass Grande Stevens c. Italien (2014) den Entscheid Müller-Hartburg c. Österreich, der ja aus dem Kalenderjahr unmittelbar zuvor stammt (2013), nicht ein einziges Mal erwähnt. Das kann an der miserablen Qualität des Entscheides liegen, es kann allerdings auch darin begründet sein – so zumindest der unbefangene Eindruck, demjenigen durchaus verwandt, den unser Bundesgericht erweckt –, dass je nach Art der Strafe, um die es im jeweiligen Fall gerade geht (Bussen, Geld-, Freiheitsstrafen, Berufs- und andere ‑verbote) auch jeweils ein anderes Argument vorgebracht wird, warum es sich dabei nicht um eine Strafe handeln soll. Das wäre vertieft zu prüfen, wofür hier kein Raum besteht. Sofern es aber tatsächlich zutrifft, belegt es das ganze Elend dieser Rechtsprechung und die völlige dogmatische und philosophische Orientierungslosigkeit, die sich notwendig ergeben muss, wenn man mit prozessualen Kriterien (strafrechtliche Anklage) materiell-rechtliche Begriffe (Strafe) zu definieren sucht.

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Strafe definieren 3: Strafe = Freiheitsentzug?
Marcel Alexander Niggli, ContraLegem 2021/3, 42-45
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