Die Geburt des Postkolonialismus

Konstantin SakkasDie Geburt des Postkolonialismus aus dem Geist des Faschismus [sive der Achse] MContraLegem202212023

Die Geburt des Postkolonialismus aus dem Geist des Faschismus [sive der Achse]

Konstantin Sakkas

Antiwesternismus und Antirationalismus gestern und heute

20Poststrukturalismus und Postkolonialismus sind die dominieren Denkrichtungen der Gegenwart. Ihre Glaubenssätze lauten: Alles sei Konstrukt und müsse als solches entlarvt werden. Transzendente Wesenheiten wie Humanität, Moral oder universelle Werte gebe es nicht. Und alles und jedes müsse „dekolonisiert“ werden.

Gegen Dekonstruktion und Dekolonisierung ist an sich nichts zu sagen. Denn alles Denken ist Dekolonisierung, alles Definieren Dekonstruktion. Gefährlich aber werden sie, wo sie Ausdruck nihilistischer und totalitärer Tendenzen werden.

Es ist wohl kein Zufall, dass sich die postkoloniale Welle zeitgleich zum weltpolitischen (Wieder-)aufstieg Russlands und Chinas Bahn gebrochen hat, nämlich während der letzten zwanzig Jahre. 2001, das Jahr der Anschläge auf das World Trade Center, und 2008, das Jahr der Finanzkrise, werden als globale Momente westlichen Verfalls gelesen. Das kriegslüsterne Amerika und der ausbeuterische Neoliberalismus wurden zu mächtigen Chiffren. Antiliberalismus und Antiamerikanismus sind heute breiter Konsens: dass die NATO aufgelöst werden müsse, die europäische Neuzeit mitsamt Aufklärung und Industrialisierung eine einzige Verfallsgeschichte und der westliche Humanismus ein blosser Verblendungszusammenhang seien: darauf können sich die grün wählende Bildungsbürgerstochter aus Hamburg-Blankenese und der Israel hassende Taxifahrer aus Berlin-Neukölln gleichermassen verständigen.

Der intellektuelle Postkolonialismus denunziert den europäischen Rationalismus als Herrschaftsinstrument einer egoistischen und eurozentrischen bürgerlichen Elite. Doch er verkennt, dass das Cartesische „Ich denke, also bin ich“ schlicht ein Freiheitssatz ist, der das in der Welt verlorene Individuum vor dem Sturz in die Bodenlosigkeit bewahren will. Das „Ich“ im „ich denke“ ist nicht, wie ihm von postkolonialen Denkerinnen vorgeworfen wird, exklusional, sondern es ist im Gegenteil ein Schutzmittel gegen die ausschliessende Kraft des In-der-Welt-seins an sich.

Denken erschöpft sich eben nicht im krakeelenden Aufdecken von Konstruiertheit, denn alles Seiende, alles durch Raum, Zeit und Geschichte Determinierte ist konstruiert (auf nichts anderes will der vielverspottete Philosoph Markus Gabriel hinaus). Dass Klasse, Geschlecht, Ethnizität, Wirtschaftsform blosse Setzungen und daher in ihrer Geltung anfechtbar seien, ist nicht die geniale Entdeckung, als die es der Vulgärpoststrukturalismus von heute verkauft, sondern eine philosophische Binsenweisheit. Das eigentliche Denken spürt 21dagegen dem Grund nach, der hinter bzw. oberhalb der Sphäre des sichtbar Seienden, bloss Gesetzten und Relativen liegt. Das andere aber ist kein Denken, sondern soziopolitischer Aktivismus.

Der politische Postkolonialismus aber – auch wenn er als Vorkämpfer des entrechteten und ausgebeuteten Globalen Südens auftritt – hat einen äusserst fragwürdigen ideologischen Vorläufer. Bücher wie Der andere Krieg von Dan Diner, Fünf Tage im Dezember (über den Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg) von Brendan Simms und Charlie Laderman oder Daniel Hedingers Die Achse (eine Globalgeschichte des faschistischen Bündnisses zwischen Deutschland, Italien und Japan) zeigen: ein gewaltiger und wortgewaltiger Verfechter von Antikolonialismus und Antiimperialismus war ausgerechnet der Faschismus.

Hitler prangerte zeitlebens mit grossem Gestus den angloamerikanischen Imperialismus und Kapitalismus an, denen er mit seinem eigenen osteuropäischen Kolonialreich entgegentreten wollte. Die vom kaiserlichen Japan projektierte „grossostasiatische Wohlstandssphäre“ – sie unterwarf Millionen von Asiaten, insbesondere Chinesen, einer extrem sadistischen Besatzungsherrschaft – wandte sich plakativ gegen die englischen, französischen und niederländischen Kolonialreiche im Indopazifik. Mussolinis genozidale Kolonialkriege in Libyen, Äthiopien und auf dem Balkan gehörten ins Konzept eines „antikolonialen Kolonialismus“.

Untereinander verband die Faschisten die Parole des NS-Staatsrechtlers Carl Schmitt: wer Menschenrechte sage, wolle betrügen. Menschenrechte: das war der Westen und seine Tradition, und die galt den Faschisten als verlogen und verdorben. Beweis hierfür war ihnen auch der westliche Imperialismus. Doch dass Humanismus, Aufklärung, Liberalismus und Individualismus eine grosse Lüge seien, die es gewaltsam zu dekonstruieren gelte, schreit einem heute auch vielfach aus dem postkolonialen Milieu entgegen.

Die antikoloniale und antiliberale Ideologie der Achsenmächte einst passt erstaunlich gut zum poststrukturalistisch-neomarxistischen Konsens heute, und auch zum neurechten „Querdenkertum“ mit seinem Hass auf den Westen, auf Intellektualität und Individualismus. Die faschistischen Mächte sahen sich (ähnlich wie das stalinistische Russland, das einige von ihnen gern als letztes Glied in einem eurasischen „Kontinentalblock“ gesehen hätten) als Wortführer der zu kurz gekommenen „No-Haves“. Simms und Laderman schreiben: „Um zu überleben, hiess es vonseiten der »Habenichtse«, müsse die Achse ihre eigenen Imperien errichten. Dies war zwar ein selbstgerechtes Narrativ, wurde aber im damaligen »globalen Süden« von genügend Menschen geteilt. Tatsächlich stellten sich nationalistische Führer wie Subhas Chandra Bose in Indien, Sukarno in Indonesien und der Grossmufti von Jerusalem hinter die Achse.“ In Indien, auch in der arabischen Welt wird Hitler bis heute von vielen als heroischer Vorkämpfer der Dekolonisierung gefeiert.

Die Parole Dekolonisierung spielt heute Russland und China in die Hände; vor achtzig Jahren diente sie dem Faschismus. „In Japan“, schreibt Daniel Hedinger, „sahen sich viele selbst als Opfer des westlichen Kolonialismus. Aus dieser Perspektive war der Zweite Weltkrieg kein asiatischer Konflikt, sondern Teil eines einhundertjährigen Krieges, den Japan seit der «erzwungenen Öffnung» 1853 mit dem Westen, primär den USA, ausgefochten hatte. In diesem Sinne waren das Tribunal [gegen die japanischen Kriegsverbrecher nach dem Krieg in Tokio] und die Okkupation der Schlussakt der Kolonisierung des Inselreiches. Dieser Interpretation schlossen sich global viele an: So prangerte bereits der indische Richter in Tokio, Radhabinod Pal, die koloniale «Siegerjustiz» an. Pal, dem heute auch im Yasukuni-Schrein gedacht wird, forderte deshalb in einem Minderheitsvotum den Freispruch aller Angeklagten. 22Sein Einwand, dass die Prozesse von der «kolonialen und rassistischen Mentalität» der Westmächte geprägt gewesen seien, ist bis heute populär. Insbesondere infolge des Vietnamkrieges griffen auch amerikanische Linke diesen auf. Noam Chomsky beispielsweise äusserte Verständnis für Japans Kriegseintritt mit dem Argument, das Land sei von amerikanischem Imperialismus umzingelt gewesen.“

Die Parole Dekolonisierung spielt heute Russland und China in die Hände; vor achtzig Jahren diente sie dem Faschismus.

Faschismus und Nationalsozialismus traten als sozialrevolutionär und egalitär auf. In klassisch gegenaufklärerischer Tradition wandten sie sich gegen die behauptete Unaufrichtigkeit von Rationalismus und Rationalität; heutige poststrukturalistische Invektiven gegen Descartes und Kant trügen sie aus vollem Herzen mit. Der grosse marxistische Philosoph György Lukács, der den gegenaufklärerischen Wurzeln des Faschismus das Buch Die Zerstörung der Vernunft widmete, würde hierüber vermutlich die Augen verdrehen – nicht anders als seine Antipoden, transatlantische politische Theoretiker wie Hannah Arendt und Eric Voegelin.

Gegen den Rationalismus und den Transzendenzbezug der atlantisch-humanistischen Denktradition, der er den schönen Namen „das Römische Gespräch“ gibt, wendet sich auch der Historiker Dirk Moses, der jüngst gegen das Holocaustgedenken als „deutschen Katechismus“ polemisierte. Die Debatte um Moses wie auch die um Achille Mbembe und dessen Nähe zur antiisraelischen BDS-Bewegung beglaubigen die bizarre historische Verwandtschaft zwischen Postkolonialismus und Faschismus, die Daniel Hedinger nachzeichnet: „Die Achse Berlin-Rom-Tokio durchbrach bündnispolitisch das, was der amerikanische Bürgerrechtler W. E. B. Du Bois als global color line bezeichnet hatte [...]“

Man verstehe uns nicht miss: Dekolonisierung, Dekonstruktion und Diversität sind etwas Gutes. Aber sie stehen nicht im Gegensatz zur westlichen Ordnung, sondern sind aus ihr hervorgegangen: aus Humanismus und Aufklärung, aus dem „Römischen Gespräch“. Pluralismus und Inklusion sind nämlich keine Paradigmata der östlichen Diktaturen oder des Globalen Südens, sondern sie gehören selber zum „kolonialen“ westlichen Wertesystem.

Man müsse sich, schrieb die postkoloniale Theoretikerin Gayatri Chakravorty Spivak, die europäische Aufklärung, der sie Rassismus und Antifeminismus vorwarf, als „ein aus einer Vergewaltigung hervorgegangenes Kind“ vorstellen. Nun, alles Seiende ist bedingt, ist in seinem historischen Ausgang „vergewaltigt“; nur zeichnet sich die westliche Tradition gerade dadurch aus, dass sie über die weltliche Bedingtheit der Dinge mit ihrem „Makel der Bestimmtheit“ (Hegel) hinausgeht, um deren universell gültigen überweltlichen, unverdorbenen Grund zu suchen. Aus dieser Tradition sind die westliche Wertegemeinschaft und die allgemeinen Menschenrechte hervorgegangen.

Diese europäisch-atlantische Idee von Transzendenz ist eine Erbschaft des abrahamitischen Monotheismus, also ein gemeinsames Erbe von Judentum, Christentum und auch Islam. Sie ist keine grosse Verschwörung „der herrschenden Klassen“, sondern ehrlich gemeint. Der Wille zur steten Selbstkorrektur ist der in dieser Idee gegründeten Tradition eingeschrieben: Abu Ghraib, Guantanamo, NSA und Wikileaks 23wurden vom Westen selbst aufgedeckt und skandalisiert, so wie 1968 eine westliche Bewegung war. Wer aber unter der Parole „provincialize Europe“ (Dipesh Chakrabarty) die Geschichte des Westens als Verfallsgeschichte und seinen Werteuniversalismus als grossen Betrug denunziert: der tut damit das Werk der grossen illiberalen Systeme unserer Zeit: Russlands, Chinas, der Neuen Rechten und der autoritären Revolte. Und er spielt eine altbekannte, so gar nicht linke Melodie: die des Faschismus.

Literaturhinweise

  Dan Diner: Ein anderer Krieg. Das jüdische Palästina und der Zweite Weltkrieg 1935 – 1942. DVA 2021, 352 S., 34 €.

  Markus Gabriel: Fiktionen. Suhrkamp 2020, 636 S., 32€.

  Daniel Hedinger: Die Achse. Berlin – Rom – Tokio. 1919-1946. Beck 2021, 543 S., 29,95 €.

  Brendan Simms, Charlie Laderman: Fünf Tage im Dezember. Von Pearl Harbor bis zur Kriegserklärung. Hitlers an die USA – Wie sich 1941 das Schicksal der Welt entschied. DVA 2021, 640 S, 32€.

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Konstantin Sakkas
Die Geburt des Postkolonialismus aus dem Geist des Faschismus [sive der Achse], ContraLegem 2022/1, 20-23
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