Flickenteppich

Marcel Alexander NiggliFlickenteppichVSContraLegem202214950

Flickenteppich

Marcel Alexander Niggli

49Wer gegenwärtig mediale Berichterstattung konsultiert, um sich zu informieren, wird unweigerlich auf den Begriff «Flickenteppich» stossen. Damit ist fast ausnahmslos eine abschätzige – oder zumindest kritische – Wertung föderaler Strukturen gemeint, also des Prinzips, nach welchem bei der Bildung einer Gesamtheit die einzelnen Teile eine gewisse Autonomie bzw. Eigenständigkeit und Regelungskompetenz bewahren.

Diese fast durchgängige Ablehnung des Föderalismus sollte aufhorchen lassen. Sie erscheint zumindest überraschend angesichts der zunehmend mit Vehemenz eingeforderten Diversität etwa bei Geschlecht oder Hautfarbe, die diskussionslos als Desideratum qualifiziert wird. Sie ist aber – darüber hinaus – beunruhigend, wenn nicht erschreckend, weil sie die totalitären und freiheitsfeindlichen Tendenzen der aktuellen Medienlandschaft anzeigt.

Dass in der Politik gänzlich Anderes gelten sollte als bei individuellen Zuschreibungen von Gruppenzugehörigkeiten, lässt sich wohl nur mit dem bedingungslosen Kampf für das Gute erklären: Eine Gefahr verlangt offenbar nach einer einheitlichen Abwehr, nach gemeinsamem Zusammenstehen. Handelt es sich um ein Virus, ergeben sich die Medien entgegen ihrer angestammten herrschaftskritischen Funktion und unterwerfen sich freiwillig der herrschenden Position, kritisieren alle Abweichler und Zweifelnden. Handelt es sich hingegen um Rassismus oder Sexismus, gegen die zusammengestanden werden muss, wird ebenso einheitlich eine politisch korrekte Position vertreten, die sich ebenfalls stets als unzureichend erweist.

Die moralische Aufladung dieses Kampfes für das Gute bewirkt, dass jeder Zustand als notwendig ungenügend erfahren wird, weshalb ständig härteres Durchgreifen, noch einheitlichere Massnahmen gefordert werden, sei es bei gesundheitlichen, sei es bei politischen Risiken.

Meist wird die Forderung nach einheitlichen Regelungen und Vorgaben mit Effizienz begründet, was umso merkwürdiger ist, als gerade Effizienz ein totalitäres Konzept darstellt. Natürlich sind Strukturen desto effizienter, je einheitlicher und standardisierter sie sind. Problematisch daran ist, dass diese effizienten Strukturen nicht nachhaltig sind. Jeder Hobby-Evolutionsbiologe kann erklären, dass einheitliche Strukturen und Systeme

Diese fast durchgängige Ablehnung des Föderalismus sollte aufhorchen lassen.

höchst anfällig sind für Fehler. Sind alle Phänotypen identisch, dann gilt: Ist einer anfällig auf eine bestimmte Infektion, sind es alle, ist ein Mitglied der Gruppe verletzlich, sind es alle anderen gleichermassen. Das System ist mithin fragil. Dies ist denn auch der Grund, dass menschliche Reproduktion heterozygot ausgestaltet ist und jedes menschliche Wesen einzigartig. Aber nicht 50nur die Biologie, auch die Kulturgeschichte spricht deutlich gegen Einheitlichkeit und Effizienz als Orientierungspunkt: Kaum je in der Geschichte waren derart kleine geographische Räume derart uneinheitlich organisiert wie in der griechischen Antike und der italienischen Renaissance und kaum je waren sie kulturhistorisch innovativer und produktiver. Eine Einheit bestand bei den Griechen nur in der Sprache, und bei den Griechen ggf. noch in gemeinsamen kultischen Orten wie Delphi oder Olympia, dem gemeinsamen Problem, die Bevölkerung zu ernähren, auf das indes alle Stadtstaaten jeweils völlig unterschiedliche Antworten fanden (vgl. dazu etwa die Einleitung zu Arnold Toynbees wunderbarer zwölfbändiger A Study of History, Oxford 1934 ff., die zu Unrecht kaum mehr erinnert wird). Ähnliches gilt für die italienische Renaissance, bei der ebenfalls das Gemeinsame in Sprache und Kultur bestand, die aber ansonsten geradezu als Idealfall des Hobbesschen Krieges aller gegen alle erscheint, in dem nicht nur die völlig unterschiedlich organisierten Stadtstaaten miteinander in Konkurrenz standen, sondern auch die Familien innerhalb der jeweiligen Städte (man denke nur an die sog. Geschlechtertürme). Die griechische Antike, ein Flickeneppich! Die oberitalienische Renaissance, wieder ein Flickenteppich!

Es werden wohl auch ideologisch der Einheitlichkeit Verpflichtete zugeben, dass Vereinheitlichung keine innovativen Kräfte auszulösen vermag und dass sie (zumindest biologisch und kulturell) nicht produktiv ist. Dort aber, wo dies nicht zutrifft, hilft vielleicht eine wirklich einfache Überlegung: Müsste es nicht skeptisch machen, dass dem hiesigen Sturmlaufen gegen die Autonomie der Kantone in Deutschland eines gegen diejenige der Bundesländer entspricht, und zwar bis ins Detail hinein? Und wenn es denn so gar fürchterlich ist, dass unterschiedliche geographische Bereiche unterschiedliche Regelungen kennen, warum sollte das nur innerhalb von Landesgrenzen zutreffen? Wäre nicht eine internationale, eine kontinentale oder gar globale Vereinheitlichung der Krisensituation am angemessensten? Von Gefahren Bedrohte aller Länder vereinigt Euch! Aber dann … dämmert es mir… Wenn die Gefahr allüberall dieselbe ist, kann es eigentlich auch nur eine Antwort geben. Warum bräuchte es dann aber mehr als eine Zeitung? Wäre es nicht des Effizienteste, die unterschiedlichen Blätter zu vereinheitlichen und die verschiedenen Standpunkte zu einer einzigen, allgemeingültigen Position zusammenzunehmen? Ach, ich Dummerchen, was rede ich denn da. Das alles haben die Medienhäuser ja bereits getan … Ganz freiwillig … Und höchst effizient. Leider.

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Marcel Alexander Niggli
Flickenteppich, ContraLegem 2022/1, 49-50
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