Editorial 2021-3

M. A. NiggliDie Aufklärung ist vorbeiEditorialContraLegem20213410

Die Aufklärung ist vorbei


Editorial

4Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. 

Mit diesen Worten beginnt Immanuel Kant seinen 1784 erschienenen Aufsatz «Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?» Und er fährt fort:

Sapere aude! Habe Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.

Sofern das zutrifft, ist die Aufklärung wohl vorbei. Warum? Ganz kurz gesagt, weil Denken Verantwortung bedeutet. Etwas ausführlicher:

Denken

Was ist das: Denken? Nicht selten wird Denken als eine Form von Mechanik verstanden, als eine Art Handwerk, in gewisser Weise dem Verwenden eines Werkzeuges vergleichbar, das eingesetzt wird, um ein Problem zu lösen. Das mag zwar auch sein, aber es geht am Kern, der uns hier interessiert, in gewisser Weise vorbei, weil es die Frage nach der Natur des Denkens mit seinem Zweck oder seiner Verwendung beantwortet. Die aber sind natürlich exogen und sagen über das Denken selbst recht wenig aus.

Worin also besteht Denken? Woraus besteht es? Was tun wir, wenn wir denken? Wie es scheint, in nichts anderem als darin, Unterscheidungen zu treffen. Wir unterscheiden. Und weil diese Unterscheidungen nicht in der Welt sind, tragen wir sie in sie hinein. «Denken» bedeutet deshalb immer auch Verantwortung zu übernehmen. Es gibt kein Denken, für das wir keine Verantwortung zu tragen hätten. Denn auch dort, und vielleicht gerade dort, wo wir Unterscheidungen anderer übernehmen, machen wir uns diese Unterscheidung ja zu eigen, deren Welt wird die unsere, deren Gedanke der unsere. Es gibt deshalb – ausser dort, wo wir blind und stumpf wiederholen bzw. wiedergeben, was ein anderer gedacht hat – kein «Nach-Denken», es kann kein eigentliches Denken im Sinne von Nach-Folgen, also in dem Sinne geben, dass etwas bereits Gedachtes, den bestehenden Unterscheidungen eines Anderen entlang, noch einmal gedacht wird, ohne dass es dadurch zu eigen gemacht würde, assimiliert, im unmittelbarsten Sinne aufgegessen und absorbiert wird.

Denken ist notwendig immer unser Eigenes, ist von uns selbst nicht zu trennen. Deshalb können wir der Verantwortung dafür auch nicht entkommen, denn uns selbst entkommen wir höchstens im Rausch. Wer die Verantwortung für sein Denken scheut, scheut das Denken überhaupt. Dort, wo wir die Verantwortung für den Gedanken nicht übernehmen wollen, da beten wir, bewegen uns auf vegetativer Ebene, gleich einer Pflanze ohne Sinn und Verstand, wiederholen wir gleich einem Echo nur Klang und Laut des Rufs, nicht aber dessen Sinn und Bedeutung. Erstaunlich und erschreckend zugleich ist dabei, dass wir das Denken nicht kontrollieren können, nicht im Ansatz, nicht in der Essenz. Wirkliches Denken führt uns regelmässig auf schwindelerregenden Wegen in beängstigende Höhlen, nicht selten ängstigt uns die Dunkelheit da zu Tode. Auch dafür aber – vielleicht gerade dafür aber – 5haben wir die Verantwortung zu tragen. Verantwortung für etwas, das wir weder anstreben, noch kontrollieren, noch vermeiden können. Darin und nur darin besteht Denken, so scheint es.

Verantwortung

Damit ist umrissen, warum Selber-Denken, das zentrale Projekt der Aufklärung, nicht mehr attraktiv ist: Es bedeutet Verantwortung, unausweichlich und unvermeidlich Verantwortung. Verantwortung aber ist gegenwärtig in Auflösung begriffen. Und dies in atemberaubender Geschwindigkeit, quasi im freien Fall.

Natürlich liesse sich zum Beleg dafür der Kundendienst und seine Auslagerung in sog. Callcenter anführen, wo der verzweifelte Kunden erst durch eine (wie es scheint möglichst) lange Wartezeit entmutigt und durch schwer erträgliches Gedudel zusätzlich weichgekocht wird, nur um schliesslich auf einen ebenso verzweifelten Mitarbeiter zu stossen, der für die Misere nichts kann, weshalb es auch schwer fällt, ihn anzuschreien, dieweil der Algorithmus, der sie verursacht hat, natürlich weder anwesend noch verantwortlich ist, und diejenigen, die ihn programmiert haben, sich nicht einmal bewusst sind, was sie angerichtet haben. Aber diese Beispiele liessen sich unter Umständen auch als blosse Konsequenzen eines allgemeinen, technischen Wandels begreifen. Aber das Verschwinden der Verantwortung hat mit uns selbst zu tun, ist nicht bloss Ausdruck von technischen Veränderungen.

Als Beleg liesse sich etwa die Ablehnung der Selbstbestimmungsinitiative im Jahr 2018 anführen. Es erscheint ja auf den ersten Blick höchst erstaunlich, dass die Bevölkerung die Berechtigung ablehnt, bei internationalen Verträgen, die von der Regierung ausgehandelt werden, ebenso mitbestimmen zu dürfen, wie bei nationalen Gesetzen. Aus der Perspektive der Aufklärung erscheint nicht leicht verständlich, warum jemand ein Mitspracherecht überhaupt je zurückweisen sollte. Denn: Lassen sich für die Ablehnung einer Mitsprachepflicht leicht Gründe finden, gilt für ein Mitspracherecht genau das Gegenteil und die Vermutung dürfte nicht abwegig sein, das Ablehnen eines solchen Rechtes als Ausdruck des Misstrauens sich selbst gegenüber zu verstehen, also als Ausdruck des Verzichtes auf das Wagnis der Erkenntnis, der Autonomie.

Verwaltungen

Die Zerfledderung von Verantwortung über das probate Mittel von Gruppen, Kommissionen und Institutionen spricht in dieser Nummer der Beitrag von Bundesrichterin Monique Jametti an. Hier sei ausreichend der Hinweis darauf, dass es nicht möglich ist, herauszufinden, wer genau die Schweiz bei der GAFI bzw. FATF vertritt. Die Website macht dazu keine Angaben und Rückfragen bei der eidgenössischen Verwaltung ergeben nur grobe Hinweise, aber keine Namen. Irritierend ist bereits die Tatsache, dass die Vertretung der Schweiz in einem Newsletter kommuniziert wird, worauf wir schon 2018 hingewiesen haben (vgl. Carola Göhlich, GAFI/FATF und die Forderung nach Transparenz – Ein Erfahrungs­bericht, ContraLegem 2018/2, 86 f.). Dass die Schweizer Interessen «von einer Delegation unter der Führung des Eidgenössischen Finanzdepartements / Staatssekretariat für internationale Finanzfragen (EFD/SIF) wahrgenommen [werden]; [und] zur Delegation weiter das Bundesamt für Polizei (fedpol) / Meldestelle für Geldwäscherei (MROS), das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) / Abteilung Sektorielle Aussenpolitiken (ASA), die Eidgenössische Finanzmarktaufsicht (FINMA), das Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) und die Bundesanwaltschaft (BA)» gehören, wie der Newsletter FATF vom Oktober 2020 meint, hilft natürlich nicht weiter. Keine der Personen, die einer dieser Behördenabteilungen angehören, wird je für das eigene Tun mit der eigenen Person Verantwortung übernehmen müssen, denn jeder wird auf andere zeigen (können). Und dies obwohl diese Institution «Empfehlungen» abgibt, die von den Schweizer Behörden (die sie 6als deren Mitglieder verfasst bzw. mitzuverantworten haben) also «quasi-verbindliche» Vorgaben behandelt werden, denen sie, die Schweizer Behörden, die sie mitverfasst haben, sich nicht entgegenstellen, denen sie nicht entgehen könnten. Sicherlich wäre der Stellenwert eines Verweises auf Empfehlungen der nationalen Verwaltung weniger eindrücklich als einer auf die Empfehlungen der FATF/GAFI, wie er sich regelmässig in der nationalen Gesetzgebung zum Finanzmarktrecht findet.

Natürlich dürfen Verwaltungen «gesichtslos» sein und sie sind es ja typischerweise auch. Das ergibt durchaus Sinn dort, wo sie eben verwalten, d.h. die Entscheidungen anderer umsetzen. Sind es aber nicht die Vorgaben anderer, die sie anwenden, sondern bilden sie die Regeln selbst, wenden sie eben nicht bloss an, führen sie nicht bloss aus. Alsdann erscheint es höchst bedeutsam, die Person zu kennen, die diese Regeln formuliert, denn erst dies zwingt sie, die Verantwortung für ihr Handeln und ihre Entscheidungen zu übernehmen. Eine gesichtslose Verantwortung ist keine.

NGOs und andere Entpersonalisierungseinrichtungen

Dasselbe Phänomen zeigt sich auf nationaler, wie besonders internationaler Ebene, wo Vereine und Vereinigungen, denn nichts anderes sind sog. NGOs, non-governmental organizations, zunehmend zu eigentlichen Akteuren der Politik werden. NGOs sind gesichtsloser als politische Parteien, ihre Entpersonalisierung ist Programm und Wurzel ihres Einflusses und erlaubt ihnen, sich zu allem und jedem äussern, selbst wenn es mit ihrer eigentlich angestammten Zielrichtung überhaupt nichts zu tun hat. Genannt sei etwa Amnesty International, eine Vereinigung, die sich traditionell für die Einhaltung der Menschenrechte einsetzt, gegenwärtig aber primär dadurch auffällt, dass sie in verschiedenen europäischen Ländern eine Verschärfung des jeweiligen Sexualstrafrechts fordert. Das ist in dreierlei Hinsicht problematisch:

Zum einen ist es eine Abkehr vom Gedanken der Menschenrechte, denn Frauenrechte, Kinderrechte etc. sind nicht einfach Untergruppen von Menschenrechten, vielmehr widersprechen sie diesem universalen Konzept (Rechte, die allen zukommen sollen, unabhängig von ihrer jeweiligen Gruppenzugehörigkeit) unmittelbar und direkt. Überdeutlich wird das, wenn die jeweiligen Gegenstücke von Frauenrechten, Schwulenrechten oder Behindertenrechten benannt wird: Das wären dann ja wohl Männerrechte, Heterosexuellenrechte oder Rechte von Nicht-Behinderten, Nicht-Benachteiligten. Das Einfordern von besonderen Rechten einer Gruppe, schafft begriffsnotwendig die Rechte der davon jeweils Ausgeschlossenen. Das aber sind gerade diejenigen, gegen deren Dominanz die Rechte der ursprünglichen Gruppe eingefordert werden. Wird der universale Anspruch der Menschenrechte aufgegeben, werden Menschenrechte überhaupt aufgegeben.

Zum anderen erscheint symptomatisch, dass das in der Aufklärung entstandene, als Abwehr von staatlicher Macht und als Verteidigung dagegen gedachte Konzept der Menschenrechte, in sein eigentliches Gegenteil verkehrt und als Legitimation von Eingriffen in gerade diese Rechte dienen soll. Aus einem defensiven wird ein aggressives Konzept, das sich in Begriffen wie «Responsibility to Protect» (zur Kritik aktuell: Robin Dunford & Michael Neu, Just War and the Responsiblity to Protect, A Critique, London 2019) oder «Carcereal Feminism» zeigt.

Zum dritten schliesslich geht mit der Entpersonalisierung eine zunehmende Entkoppelung von Rechten und Pflichten einher, was sich quasi selbstverständlich und natürlich ergibt, weil all die Forderungen und Aufforderungen zwar spezifische Adressaten haben, aber eben keine definierten Absender. Die Koppelung von Rechten und Pflichten aber ist das leistungsfähigste Kriterium zur Entscheidung der Frage, wem überhaupt Rechte zukommen können oder sollen. Wer keine Pflichten zukommen können, 7dem können auch Rechte nicht oder nur eingeschränkt zukommen, er ist nicht mündig und selbstbestimmt. Natürlich lässt sich von «Rechten» der Natur oder «Rechten» zukünftiger Generationen sprechen, das meint aber eben keine Rechte, sondern Pflichten anderer, diese vermeintlichen «Rechte» zu berücksichtigen, die – und das erscheint symptomatisch – nicht von den Rechtsträgern, sondern von irgendwie bestimmten irgendwelchen Vertretern eingefordert werden.

Verantwortungsproliferation und Distanzierungspflicht

Dass niemand mehr für etwas verantwortlich ist, bedeutet zugleich, dass es alle ein bisschen sind. Damit löst sich zum einen notwendig die Grenze zwischen Recht und Moral auf, denn Ethik ist gerade dadurch definiert, dass sie immer ungenügend verwirklicht ist. Ethisch betrachtet tun wir immer zu wenig (so völlig korrekt: Zygmunt Bauman, Postmodern Ethics, London 1993, 80: «The moral self is always haunted by the suspicion that it is not moral enough»; vgl. weiter zur Auflösung dieser Unterscheidung: M. A. Niggli / L. F. Muskens, Recht und Moral: Auflösung der Kategorien, am Beispiel der Rechtfertigung von Hausfriedensbruch durch Notstand infolge Klimawandels (Bezirksgericht Lausanne), Richterzeitung «Justice - Justiz - Giustizia» 2020/2). Das Phänomen, dass alle für alles verantwortlich sind, zeigt sich vielleicht am deutlichsten in den sog. sozialen Medien. Da nämlich ist es inzwischen durchaus üblich, ausdrücklich anzugeben, die geäusserten Meinungen seien die eigenen. Das aber kann in der Perspektive der Aufklärung nur erschrecken, denn wessen Meinungen sollten Meinungen sein, die ein aufgeklärtes autonomes Individuum äussert, wenn nicht die eigenen? Dieser ausdrücklichen Feststellung des Selbstverständlichen entspricht spiegelbildlich die Erwartung oder gar Verpflichtung, sich von allen möglichen Dingen und Sachverhalten zu distanzieren und regelmässig treffen wir auf Vorwürfe, jemand habe sich nicht von irgendetwas distanziert, was ja nur bedeuten könne, dass er die fragliche Sache gutheisse, auch wenn er mit Terroranschlägen, Sklaverei oder Sexismus usw. an sich gar nichts zu tun hat. Üblich geworden ist nicht nur, sich für seine Eltern oder Grosseltern zu entschuldigen, sondern auch, dass eine solche Entschuldigung erwartet wird, und zwar für alle Verhaltensweisen von Personengruppen, denen man zugerechnet wird (Alter, Geschlecht, Hautfarbe u.dgl. mehr). Und dem wiederum entspricht der ständig vorgebrachte Versuch, sich von der Verantwortung für das eigene Verbreiten von Inhalten dadurch zu distanzieren, dass schlicht statuiert wird, Verbreiten bedeute kein Gutheissen. Das indes ist ebenso hilflos wie irreführend. Denn natürlich heisse ich durch blosses Berichten das Berichtete noch nicht gut, aber ich verbreite es eben und daran und der Verantwortung dafür vermag natürlich auch keine ausdrückliche Distanzierung etwas zu ändern.

Sein statt Handlung

Verantwortung setzt im aufgeklärten Verständnis Handlung voraus. Und Handlung wiederum setzt ein Subjekt voraus, das mit einem Ereignis verknüpft wird. Die erwähnte Zerfledderung der Verantwortung (niemand ist für nichts verantwortlich) geht – wie gesehen – einher mit ihrer uferlosen Ausdehnung (alle sind für alles verantwortlich). Das ist nur möglich, wenn für die Verantwortung nicht – wie im modernen Verständnis – an der Handlung angeknüpft wird, sondern an einer Klasse, welcher das Individuum zugerechnet wird.

Das aufgeklärte Universum ist kein Kontinuum, sondern besteht aus diskreten Augenblicken. Es besteht wesentlich aus Handlungen, aus einzelnen Momenten und Unterscheidungen, die sich stets dynamisch erneuern und von einem Augenblick zum nächsten verändern können, nicht aus einem Seinsstrom, der sich melasseartig nur langsam wandelt.

Wenn alle für alles verantwortlich sind, erscheint selbstverständlich, dass Verantwortung 8nicht mehr an der Handlung (eines Einzelnen) anknüpfen kann, sondern einen anderen Bezugspunkt benötigt. Dieser Bezugspunkt findet sich offenbar im Sein, in der Zugehörigkeit des Subjektes zu einer Klasse, der es zugerechnet wird. Während das aufgeklärte Subjekt von seiner Gruppenzugehörigkeit abstrahiert, weil der Referenzpunkt der Vernunft ein einheitlicher, allen gemeinsamer ist, wird nun das handelnde Subjekt stets verstanden als Subjekt, das handelt «als …», als Angehöriges einer bestimmten Gruppe, Kategorie oder Klasse (Alter, Geschlecht, Hautfarbe etc.), nicht als autonom denkendes Ens.

Das ausserordentlich Beunruhigende an dieser Entwicklung wird am Beispiel des Strafrechts offenbar: Knüpft ein Vorwurf nicht an der Tat, sondern am Täter an, nennen wir das nicht Tat-, sondern Täterstrafrecht, ihre entsprechen nicht Tat-, sondern Lebensführungsschuld. Die sog. Kieler Schule hat zu Beginn der 30er-Jahre des letzten Jahrhunderts genau dies propagiert, indem sie insbesondere gegen den Tatbestand, der eben das fragliche Verhalten umschreibt, Sturm gelaufen ist. Dass sich im deutschen Strafgesetzbuch noch nationalsozialistische Formulierungen finden (vgl. § 211 Abs. 2 D-StGB: «Mörder ist, wer…») ist historisch zu erklären und auch der Reaktion auf das nationalsozialistische Regime geschuldet. Dass aber derartige Formulierungen auch in der Schweiz Verwendung finden, ist doch eher verstörend. So hatte etwa die sog. «Raser-Initiative» im Jahr 2010 (BBl 2010 2639) eine Ergänzung der Verfassung gefordert (Art. 123c Schutz vor Raserinnen und Rasern), wonach «als Raserin oder Raser mit Freiheitsstrafe» zu bestrafen sei (Abs. 1), bei Tod oder Körperverletzung anderer «die Raserin oder der Raser» höher bestraft sein sollten (Abs. 2), die Fahrzeuge «von Raserinnen und Rasern» eingezogen würden (Abs. 3), die «Führerausweise von Raserinnen und Rasern» entzogen würden (Abs. 4) und diese Führerausweise «einer Raserin oder einem Raser» erst nach bestimmten Voraussetzungen wieder erteilt würden (Abs. 5). Die Verwendung des nationalsozialistischen, auf den Täter und nicht die Tat fokussierten Vokabulars war also zweifellos kein Versehen, sondern bewusste Brandmarkung. Denn die Formulierung «wer …, wird mit … bestraft» gewinnt natürlich nichts an definitorischem Gehalt, wenn sie ergänzt wird nach dem Modell «wer …, wird als Raser mit … bestraft», überhaupt nichts, ausser eben der Brandmarkung. Diese Versessenheit auf die Brandmarkung der Täter mutet umso seltsamer an, als dass zu den namentlich genannten Urhebern u.a. die Nationalräte Ruth Humbel, Daniel Jositsch, Philipp Müller und Luc Recordon gehörten, was zumindest bei einem Strafrechtsprofessor einigermassen irritiert. Die Initiative ist inzwischen, obwohl zurückgezogen, praktisch tale quale Gesetz geworden, wenn auch glücklicherweise ohne die Nazi-Formulierungen. Nichtsdestotrotz ist noch im Jahr 2014 eine Dissertation mit dieser zweifellos nationalsozialistischen Wortwahl erschienen («Der Raser im Strafrecht»).

Die Abkehr von der Handlung als dynamischem Konzept hin zum Sein, das statisch verstanden wird, ist allgegenwärtig. Autofahrer, Fahrrad- & Motorradfahrer und Fussgänger werden als unterschiedliche ausschliessende Entitäten konzipiert, obwohl die meisten von uns gelegentlich in der einen oder anderen Rolle unterwegs sind. Dasselbe gilt für Vegetarier, die keine mehr sind, sobald sie einmal Fleisch essen, oder Nichtraucher, die bereits mit einer Zigarette zu Rauchern werden. Und die Liste der Beispiele liesse sich beliebig verlängern, etwa im Hinblick auf sexuelle Präferenzen oder Geschlechter. All diese Klassifikationen tragen einen deutlich totalitären, aufklärungsfeindlicher Charakter.

Ob die Angst vor der Unbestimmtheit der Zukunft der eigentliche Grund der Abkehr von der Tat darstellt, ist nicht leicht zu entscheiden, obwohl es naheliegt. Sicher aber ist, dass die Hinwendung zum Sein verstanden als Ausdruck einer statischen Zuordnung die bedrohlichen Unsicherheiten der Zukunft erheblich reduzieren: 9Ein «Raser» bleibt ein Raser, auch wenn er nicht rast, ein «Raucher» einer auch wenn er aufhört zu rauchen, und ein Carnivore bleibt ein Fleischfresser, auch wenn er sich monate-, ja vielleicht jahrelang ganz ohne Fleisch ernährt, die blosse Bereitschaft, Fleisch zu essen definiert ihn. Die Hinwendung zum Sein nimmt der Unbestimmtheit der Zukunft gewissermassen ihre Schärfe und führt zurück in eine vormodern anmutende Beschaulichkeit und Gemütlichkeit.

Schutzoptik

Als letztes sei hier nur noch ein Element der Entmündigung erwähnt, das mit der Klassifizierung der Welt über das Sein unmittelbar korrespondiert: Die Schutzoptik. Wenn Ausgangspunkt nicht das stetig sich verändernde autonome, vernunftgeleitete Wesen sind, sondern Personen, die der einen oder anderen Gruppe zugerechnet werden, nach der sie klassifiziert werden, was im Kern als statische «Eigenschaft» verstanden wird, dann ergibt sich daraus auch die Möglichkeit einer «objektiven» Beurteilung bzw. Bewertung der jeweiligen Gruppen oder Klassen bzw. der ihr zugerechneten Elemente qua Gruppenelement. Weil die ethische Verantwortung für Verhaltensregeln beim Umgang von «Starken» mit «Schwachen» in der Seins-Perspektive nicht mehr eine der konkreten Situation, der spezifisch betroffenen Person ist, sondern eine der statischen Gruppe, der sie zugerechnet wird, mithin eine der Klassenzugehörigkeit, ergibt sich eine «Entmündigung» quasi selbstverständlich, weil eine einer «schwachen» Klasse zugerechnete Person auch dann als schutzbedürftig qualifiziert wird, wenn sie es im konkreten Fall gar nicht ist. Analog der Responsibility to Protect und der Pervertierung der Menschenrechte in ein Konzept, das staatliche Eingriffe in die Grundrechte des Grundrechtsträgers legitimiert, zeigt sich auch hier der moralische Impetus primär darin, dass das zu «Beschützende» primär «beschützt» wird, indem es seiner Mündigkeit beraubt wird bzw. indem diese Mündigkeit beschränkt oder gar verneint wird, und zwar kategorisch, d.h. auch dort, wo sie vorhanden wäre, und zwar zum Besten des Entmündigten. Als Beispiel sei hier nur etwa die letzte Revision des Berufsverbots nach Art. 67 StGB erwähnt, das die dem Gesetz bis dahin unbekannte Kategorie der «besonders schutzbedürftigen Person» einführte, die sich von «Minderjährigkeit» ebenso unterscheiden solle wie von situativer «Wehrlosigkeit» und «Widerstandsunfähigkeit», Qualitäten und Eigenschaften, die auch nicht vorliegen müssen, was dazu führt, dass ein Verhalten gegenüber jemandem, der weder minderjährig, noch widerstandsunfähig, noch wehrlos ist, dennoch zu einem u.U. lebenslänglichen Berufsverbot führt (vgl. ausführlich M. A. Niggli, Endgültiger Abschied von Feuerbach, Einleitung zur Texto-Ausgabe StGB, 9. Aufl., Basel 2020, LX ff.).

Als aktuellstes Beispiel kann die Pressemitteilung des Bundesrates vom 17. November 2021 dienen. Darin heisst es: «Verschiedene vom BAKOM in Auftrag gegebene Studien kommen zum Schluss, dass die Bevölkerung auf einen effektiven Schutz vor illegaler Hassrede und Desinformation Anspruch hat». Interessant daran ist nicht nur, dass es offenbar mehrere Studien braucht, um einen «Anspruch auf Schutz» zu ermitteln, wobei der Begriff «Anspruch» nicht etwa ein Recht desjenigen meint, dem dieser «Anspruch» zukommt, sondern ein Werturteil der Regierung, und zwar eines, das sie mit der Referenz auf die Empirie zu objektivieren und zu legitimieren sucht. Die Aussage, dass in sozialen Medien mehr «Falschnachrichten» zu finden sind, mag sein, dass aber bei «traditionellen Medien» eine «Verpflichtung zur Wahrhaftigkeit der Inhalte» bestehe, ist wohl eher Wunsch als Wirklichkeit, dass schliesslich aber die Bevölkerung der Schweiz «befürchte» «in den sozialen Netzwerken und auf Videoportalen mehr Falschnachrichten vorgesetzt zu bekommen» ist nicht nur paternalistisch, sondern auch falsch: Es ist die Bevölkerung selbst, die diese Nachrichten produziert, sie werden ihr nicht vorgesetzt. Und sie weiss wohl auch um deren beschränkte Zuverlässigkeit, 10und sofern sie es nicht täte, wäre angezeigt, es ihr zu sagen, und nicht, sie davor «zu schützen». Was anderes also könnte gemeint sein mit der «Notwendigkeit, die Bevölkerung vor Hassrede und Desinformation im Internet zu schützen», als die Rechte ebendieser Bevölkerung einzuschränken? Dass dabei das Wort «Desinformation» in einem offiziellen Dokument nicht der Sowjetunion, Kubas oder Nordkoreas auftaucht, sondern der Schweizer Regierung, kann nur erschrecken.

Dass mit der Behauptung, man tue dies «zum Schutz» der jeweiligen Personen, systematisch und sukzessive Antragsdelikte zu Offizialdelikten gemacht werden, ist eine merkwürdige Verlogenheit eigenen Kalibers. Behaupteterweise «zum Schutz» der jeweils Berechtigten wird ihnen ein Recht entzogen (das Recht, einen Strafantrag zu stellen, steht nur dem unmittelbar Verletzten zu und ermöglicht, das Verfahren zu stoppen). Behauptet wird, dass die Person, der ein Antragsrecht zustehe, Pressionen ausgesetzt sei, was an das Argument erinnert, Frauen, die abends leichtgeschürzt ausgehen, dem Risiko sexueller Belästigung ausgesetzt seien, weshalb man ihnen vorsorglicherweise das Ausgangsrecht entziehe. Diese Argumentation findet sich in der Gesetzgebung nicht nur im Bereich der Sexualdelikte, sondern sogar bei der sog. Privatbestechung. Weil, so das Argument, für die Strafverfolgung nach Art. 23 UWG (BG über den unlauteren Wettbewerb) ein Strafantrag notwendig war, die zum Strafantrag Berechtigten aber zu wenig Strafanträge eingereicht hätten, habe man aus der Bestimmung ein Offizialdelikt machen müssen. Pikant daran ist, dass gemäss Art. 9 und 10 UWG indes praktisch jeder auch nur entfernt Betroffene zum Strafantrag berechtigt war und wozu sogar der Bund gemäss Art. 23 Abs. 3 UWG berechtigt wurde. Ungeahnte Höhen der Hypokrisie werden erreicht, wenn man sich darüber beklagt, dass man selbst seine Rechte nicht wahrnimmt. Nicht nur das Volk zieht es vor, lieber nicht mitzureden, der Gesetzgeber selbst sieht es ebenso (dass das Parlament im Frühling 2020 seine Session abgebrochen hat und seine Verantwortung im Wesentlichen an die Regierung abgeschoben hat, während es doch den Rest des Landes immerhin auf Telearbeit verwies, ist nur ein weiteres Beispiel).

  Fazit

Denken bedeutet immer, Verantwortung zu übernehmen, Verantwortung aber ist nur ein anderes Wort für Freiheit. Die illiberalen, freiheitsfeindlichen und kollektivistischen Tendenzen, die wir beobachten, erklären sich also ganz einfach. Sie liegen in der Unwilligkeit, Unsicherheit nur schon zu ertragen, in der stetig abnehmenden Fehlertoleranz gegenüber allen, die Risiken eingehen. Sie liegen in der Sehnsucht nach einem wohlig-warmen und beschützten Zuhause, wofür das bisschen Mündigkeit noch so gerne hingegeben wird. Von Entmündigung hatte ich gesprochen, aber das muss wohl präzisiert werden: Was wir erleben, ist eine freiwillige Rückkehr in die selbstverschuldete Unmündigkeit auf allen Ebenen. Die Freiheit ist uns offenbar nicht mehr viel wert. Oder umgekehrt: Wir sind die Freiheit offenbar nicht wert. Oder in den Worten von Kant:

Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Theil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung frei gesprochen (naturaliter majorennes), dennoch gerne Zeitlebens unmündig bleiben; und warum es Anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein. 

M. A. Niggli

Murten, im Herbst 2021

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Die Aufklärung ist vorbei
Marcel Alexander Niggli, ContraLegem 2021/3, 4-10
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